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Er drehte Räder über meinem Kopf

Als ich an einem Wochende vor meinem Umzug einen Trip in die Stadt wagte, um erste Formalitäten zu klären und eine Wohnung zu finden, traf ich zum ersten mal Jakob. Leider verlief das erste Zusammentreffen eher schmerzhaft, denn während ich in einen Stadtplan verwickelt aus einem Fahrstuhl im Kaufhaus ging, kam er um die Ecke gesaust und krachte mit seinem Kinn gegen meine Stirn.
„Au, hast du nen harten Schädel!“, fluchte er und rieb sich den Kieferknochen.
Ich sah ihn zuerst gar nicht richtig, weil ich jedesmal, wenn ich die Pupillen nach oben bewegte nur Sterne vor den Augen hatte. „Danke“, brummte ich zurück und riss mich zusammen, nicht umzukippen.
„Ist noch alles dran?“, fragte er mittlerweile etwas besorgter.
„Ich muss dringend was trinken.“, murmelte ich vor während mir immer noch Sterne vor den Augen kreisten, weil mir ein einfacher Stuhl und etwas Mineralwasser auf einmal sehr attraktiv erschienen.
„Erst muss ich mir aber noch das Blut von den Zähnen spülen.“, stimmte Jakob meiner unausgesprochene Einladung zu und führte uns beide in ein kleines Cafe, wo ich ihn etwas besser unter die Lupe nehmen konnte. Er entpuppte sich als Kommunikationswissenschaften-Student, der nebenbei Schlagzeugunterricht gab und in einer Band spielte und – jetzt kommt der Jackpot, der jedoch nichts mit seinem Liebesleben zu tun hat – einen Mitbewohner suchte, weil die Miete seines Hamburger Altbaus vor kurzem noch einmal kräftig in die Höhe gedrückt wurde. Ohne Jakob wirklich zu kennen, ohne die Wohnung gesehen zu haben und ohne jegliche WG-Erfahrungen gesammelt zu haben, sagte ich zu und ehe ich mich versah, fand ich mich in einer schicken Bude an der Binnenalster wieder.
Die ersten Wochen in der neuen Stadt waren wahrscheinlich die aufregendsten meines Lebens. Es dauerte aber nicht lange, bis ich mich an die neuen Eindrücke gewöhnte, und mich nicht mehr nach den Straßenschildern umsehen musste, wenn ich zur U-Bahn Station lief. Außerdem gewöhnten Jakob und ich uns auch aneinander. Wir sprachen ab, wer wann das Bad beschlagnahmen durfte, fragten wie selbstverständlich nach, ob der andere auch Schmutzwäsche hatte, wenn sich einer von uns zum Wäschewaschen aufraffte und erzählten dem anderen, was einen gerade beschäftigte.
Vor meiner Abreise erzählte ich meinen Freundinnen stolz, dass ich nun eine Kunsthochschule besuchte und bei einem Drummer wohnte, doch sie sahen mich an als hätte ich ihnen soeben offenbart, vorzuhaben im Badeanzug nach Transsilvanien zu fliegen. Aber wenn ich selbst darüber nachdachte, erschien mir das ganze gar nicht mehr so absurd. Schließlich war ich eine durchorganisierte Künstlerin. Was ein Widerspruch...

Der Alltag an der Schule war sehr stressig, ich kam meistens erst gegen sechs heim, genauso wie Jakob. So war es eine willkommene Abwechslung, wenn einer der Dozenten krank wurde und man den Nachmittag etwas entspannter angehen konnte. Wie an jenem Tag. Ich hauste nun schon über ein halbes Jahr in der Metropole und hatte Jakob immer näher kennen gelernt. Zugegebenermaßen war er wirklich ziemlich süß, aber ich verspürte auch nicht den Drang, sein Bett mit meinem zu verwechseln. Jedenfalls kam ich zeitiger heim als sonst, warf meine Tasche in mein Zimmer und schlenderte in die Küche, in der mich ein Mädchen überraschte. Sie kniete vor dem Kühlschrank und klebte rosa Post-It Zettelchen, die mit dem Namen 'Lina' versehrt waren, auf Cola-Light Dosen, die sie danach fein säuberlich in die Regale des Kühlschrankes sortierte. Die ganze Situation verwirrte mich sehr. 1. Was machte das fremde Mädchen in meiner Küche? 2. Seit wann gibt es Post-It's auch in rosa? 3. Wieso steht da Cola-Light? 4. Wer bitte trinkt Cola-Light? Und obwohl all diese Fragen mich sehr beschäftigen, bekam ich nur eine über die Lippen:
„Wieso schreibst du das darauf?“
Sie drehte sich um, wobei ihr glattes, dunkles Haar wellenartig mitschwang. „Damit niemand, der lesen kann, mir meine Cola wegsäuft.“
Allein der Gedanke, dass jemand anders auf dieser Welt dieses Gesöff freiwillig zu sich nehmen würde, amüsierte mich ungemein. „Sehr vernünftig. Die Zeitungen berichten ja schon weltweit über die große Colakrise.“
Sie stand auf, kickte die Schranktür zu und sagte: „Und ich dachte, du könntest nicht lesen.“
Tick-Tick. Wenn ich in solcher Art angezickt werde, fällt es mir schwer, mich zusammenzureissen und bevor ich sie niederschlug, schwieg ich lieber. Das Ticken der Küchenuhr wurde durch ein plötzlichen Poltern im hinteren Bereich der Wohnung übertönt. Ich hörte Jakob unanständige Worte zischen, als er zu uns stolperte.
„Oh, Yasmin. Du bist schon da...“, begrüßte er mich, freundlicher denn eh und je.
„Ursprünglich wollte ich mir einen schönen Mittag machen, weil einer der Dozenten...“
Er unterbrach mich. „Das ist Yasmin, meine Mitbewohnerin. Yasmin, das ist Lina.“, ging Jakob den Versuch an, uns bekannt zu machen. Mutwillig nickte ich dem rosa Post-It zu.
„Tja.“, fuhr er fort.
„Schatz? Hast du jetzt Platz gefunden für meine Kleider? Wenn die länger im Koffer bleiben kann ich die noch einmal alle bügeln lassen.“
Dieses Mädchen verwirrte mich. Schatz? Koffer? Sie bezahlt jemanden, ihre Kleider zu bügeln?
Doch meiner Mitbewohner schien diese abartigen Sätze zu verstehen. „Ja, klar. Ich pack meine Lehrbücher woanders hin. Das passt schon alles.“ Dann richtete er endlich seine Augen auf mich. „Lina ist meine Freundin und wird zu uns ziehen. Wenn es okay für dich ist.“
Solche indirekten Fragen hasste ich. Es war nicht okay für mich, aber das konnte man darauf nicht erwidern. Zumindest nicht, wenn man hier selbst erst wie ein Asylant vor sechs Monaten aufgenommen worden war.

Tschüs dann,
Yasmin



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