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Unkräuter gibt es nicht

Ihre Knie schmerzen. Der linke Ellbogen, Mit Dem Livia sich am Boden aufstützt, ist steif geworden. Daumen und Zeigefinger der rechten Hand sind grasgrün gefärbt. Mühsam richtet die Mittvierzigerin sich auf in die Hocke, langsam streckt sie den seit Stunden gekrümmten Rücken durch. Sie wischt sich Haare und Schweiss aus der Stirn und blinzelt in die Mittagssonne.
Seit dem frühen Morgen robbt Livia auf Knien über den Rasen vor ihrer Eigentumswohnung. «Heute Abend will ich kein Unkraut mehr sehen», hatte Gerold gesagt, als er um acht das Haus verliess. Und: «Mach dich doch endlich ein wenig nützlich.»

Livia schluckt leer. Zu nichts mehr fühlt sie sich fähig. Nach der Heirat mit Gerold hatte sie ihren Allerweltsjob im Büro aufgegeben, «meine Frau braucht nicht zu arbeiten», hatte er gesagt. Je länger der ersehnte Nachwuchs ausblieb, desto kürzer wurde die Zeit, die Gerold mit ihr verbrachte. Immer öfter blieb er bis spätabends im Büro, manchmal musste er übers Wochenende verreisen. Und sie, Livia, blieb zuhause. Wartete auf ihn. Sie wurde immer unsicherer, Selbstzweifel beschlichen sie. Nächtelang lag sie wach, dafür fielen ihr tagsüber die Augen zu. Als sie einsah, dass es so nicht weitergehen konnte, verschrieb der Arzt ihr ein Antidepressivum. Ein leichtes, aus einem Sonnenkraut, das wieder etwas Licht in ihr Leben bringen sollte. Und das ihr die nötige Distanz verschaffte, um ihre Situation zu überdenken.

Livia legte sich auf den Rücken, bedeckte ihre Augen mit der Hand. Sie würde auch das nicht schaffen: Ihr kam es vor, als wüchsen dort, wo sie ein Kraut gezupft hatte, gleich zwei neue. Unbändig schien der Lebensdurst dieser Kräuter, nicht unterzukriegen waren sie. So gar nicht wie sie selbst. Livia versank tief in Gedanken.
Zwei Stunden später stand sie auf, ging in ihr Schlafzimmer und packte ihre liebsten Kleider in einen Koffer. Dann schrieb sie eine kurze Notiz, legte sie zusammen mit dem Schlüssel auf den Küchentisch und verliess das Haus. Hinter ihr fiel die Tür ins Schloss.

Als Gerold am Abend nach Hause kam, fand er die Notiz: «Es gibt keine Unkräuter. Nur wilde Kräuter – und die sind pure Medizin. Sie lassen sich nicht zähmen. Leb wohl.»



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