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Spieltheorie der Verständigung oder Vernichtung

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Der Physiker, Jurist und Kognitionsforscher Alexander Unzicker analysiert in seinem neuen Buch die Herausforderungen für unser Denken im postfaktischen Zeitalter – und zeigt im folgenden Text, warum die Spieltheorie in der aktuellen Debatte um Aufrüstung und Atomabkommen nützlich sein könnte.

Seitdem Kennedy und Chruschtschow im Jahr 1963 einen Atomwaffenteststopp vereinbarten, hat es immer wieder Verträge zur nuklearen Abrüstung gegeben, die zwischenzeitlich zu einer Reduzierung der einsatzbereiten Sprengköpfe führten. Fraglich ist, ob die Vorschläge zur totalen Eliminierung von Atomwaffen je ernst gemeint waren. Tatsächlich hat wohl das »Gleichgewicht des Schreckens« die direkte Konfrontation zwischen den Supermächten in den letzten siebzig Jahren verhindert. Man trifft hier auf ein Dilemma: Das Beibehalten der atomaren Bewaffnung macht auf lange Sicht einen Atomkrieg wahrscheinlich, jeder Abrüstungsschritt führt jedoch zur Befürchtung einer Partei, sie könne ihre Zweitschlagfähigkeit verlieren und zum Angriffsziel Werden. Umgekehrt beobachtet man, dass Länder atomar aufrüsten, weil sie dies als einzige wirkliche Versicherung ansehen, nicht destabilisiert oder angegriffen zu werden.

Für Abrüstungsbemühungen wäre vielleicht ein wissenschaftlicher Zugang nützlich, denn es handelt sich im Grunde um eine spieltheoretische Situation, ein Teilgebiet der Mathematik. Internationale Arbeitsgruppen von Militärs, Politikern und Wissenschaftlern müssten die Möglichkeiten ausloten, Atomwaffen vollständig zu vernichten, ohne dass für eine der Parteien objektiv oder subjektiv das Risiko steigt, in einen Krieg verwickelt zu werden. Im Hinblick auf die Gefahr, die gesamte Menschheit auszulöschen, ist Aber jede Reduzierung der Overkill-Kapazität schon ein Schritt in die richtige Richtung.[1]

Nicht zu unterschätzen ist das Risiko, dass nicht staatliche Akteure eines Tages Atomwaffen in die Hände bekommen. Die Anreicherung des spaltbaren Uran 235 aus Natururan erfordert derzeit Großtechnologie, die weithin sichtbar ist und daher relativ gut überwacht werden kann. Aber es ist keineswegs garantiert, dass dies immer so bleibt. In Kraftwerken anfallendes Plutonium ist ebenfalls waffenfähig, auch wenn der Explosionsmechanismus schwieriger zu realisieren ist. Der latenten Gefahr, dass Nuklearwaffen in falsche Hände geraten, kann man wohl nur mithilfe von geheimdienstlichen Methoden adäquat begegnen.

Es liegt in der menschlichen Natur, subtile Gefahren im Vergleich zu den bekannten zu unterschätzen, und dies ist wahrscheinlich in diesem Buch nicht anders. Es könnte sein, dass die rasende Entwicklung der künstlichen Intelligenz neue Arten von Waffen entwickelt, deren Gefahr mit jener von Kernwaffen vergleichbar wird. Wer den Trailer zu dem Film Slaughterbots und den eindringlichen Appell von Stuart Russell, einem führenden Forscher auf dem Gebiet, gesehen hat, wird übereinstimmen, dass internationale Vereinbarungen zu Killerdrohnen und autonomen Waffensystemen dringend notwendig sind.

Wahrscheinlich werden bei den Überlegungen zur atomaren Abrüstung die konventionellen Waffen zu wenig mit einbezogen. Nicht nur fordern diese die meisten Opfer – die tödlichsten Instrumente aller Zeiten sind wohl einfache Schusswaffen –, sondern die Möglichkeit von konventionellen Kriegen müsste in jene spieltheoretischen Überlegungen einbezogen werden, die einer nuklearen Abrüstung vorausgehen. Die Welt wird der atomaren Gefahr nicht entgehen, wenn sie weiterhin konventionell aufrüstet.

Prinzipiell ist es ein interessanter Gedanke, zwischen Offensiv- und Defensivwaffen zu unterscheiden, was ein wichtiges Kriterium bei der Abrüstung sein könnte. Bomber und Flugzeugträger sind sicher nicht defensiv, Boden-Luft-Raketen möglicherweise schon. Allerdings wird natürlich die Definition der Defensivwaffe dadurch diskreditiert, wenn man sie dafür einsetzt, Exporte in Krisengebiete zu rechtfertigen.[2] Eines der großen Hindernisse auf dem Weg zur Abrüstung ist natürlich die Rüstungsindustrie, die bei ihrem Geschäft mit dem Tod offenbar wenig Skrupel verspürt. Lange Zeit war die Regierung selbst in illegale Waffengeschäfte verwickelt – man denke an den Fall Uwe Barschel oder die Ära Strauß, aber noch heute gibt es einen schamlosen Drehtür-Lobbyismus zwischen Politik und Rüstungsindustrie – weltweit. Das Problem wird sich nicht lösen, solange Industrien in verschiedenen Ländern um Rüstungsaufträge konkurrieren und Waffen als normales Wirtschaftsgut in die Bilanzen eingehen. Auch dies ist eine der ungelösten Auswüchse des Kapitalismus, der die Welt in den Abgrund stürzen kann.

Das Langzeitziel kann nur sein, in einer immer mehr technisierten Welt kriegerische Konflikte ganz zu vermeiden. In früheren Zeiten konnten Kriege ebenfalls blutig sein, aber sie zerstörten nicht die Lebensgrundlagen in einem Ausmaß, wie das heute der Fall ist. In unserer Zivilisation, die von Technologien abhängig ist, an die wir uns schleichend gewöhnt haben, wird die Lose-lose-Situation eines Konfliktes immer deutlicher. Neue Bedrohungen sind entstanden. Würden heute beispielsweise alle Computer der Welt ausfallen, wäre dies eine humanitäre Katastrophe. Undenkbar ist ein Szenario dieser Art aber nicht – denn eine einzige Atombombe in der Atmosphäre kann mit dem sogenannten elektromagnetischen Puls den Großteil aller elektronischen Geräte in Tausenden Kilometern Entfernung vom Detonationspunkt lahmlegen.

Eigentlich muss man vernunftbegabten Menschen nicht erklären, wie absurd auch eine konventionelle militärische Auseinandersetzung in der heutigen Zeit ist. Die ungenierte Diskussion von Kriegsszenarien in Europa, ohne dabei die katastrophalen Folgen zu erwähnen, ist daher wohl eine der großen Obszönitäten, die man beim Konsum der Medien heute beobachtet. Landkarten werden mit Flugzeugen und Panzern bunt bedruckt (oft genug mit verzerrten Zahlen), so als sei dies ein Spielfeld und nicht drohende Realität von Vernichtungskriegen, die Europa im letzten Jahrhundert zweimal erlebt hat. Man fragt sich, ob es noch Redakteure gibt, die einen Roman wie Im Westen nichts Neues von Erich Maria Remarque gelesen haben. Artikelüberschriften wie »Genug gesprochen«, »Stärke zeigen«, »das Ende der Feigheit«[3] sind abstoßende Beispiele für das Überschreiben der Kriegserinnerungen, die lange Zeit als warnendes Beispiel gedient hatten. Die Medien profitieren durch aggressive Berichterstattung, tragen aber nicht deren Risiken.

Entsprechend schreitet die Militarisierung in Europa wieder voran. Planspiele werden entworfen, wie schnell Panzer von Bremen nach Litauen kommen, immer mehr Manöver werden veranstaltet, ganz so, als sei dies nicht kompletter Irrsinn. Wäre es nicht manchmal angebracht, bei Fernsehbildern von Verwüstungen daran zu erinnern, dass deutsche Städte vor 75 Jahren ähnlich ausgesehen haben? Wofür sollte eigentlich gekämpft werden? Für die Freiheit, für unseren demokratischen Rechtsstaat? Krieg bedeutet automatisch die Liquidierung praktisch aller Grundrechte, angefangen bei Menschenwürde, Leben und Gesundheit. Der Rechtsstaat hört im Krieg ohnehin auf zu existieren.

Neuerdings auftauchende Begehrlichkeiten deutscher Politiker, sich an Kriegen zu beteiligen, sind verfassungswidrig und müssen mit allen rechtlichen Mitteln unterbunden werden. Früher war schon die Vorbereitung eines Angriffskrieges nach § 80 StGB strafbar, heute kann eine Aggression nach § 13 des Völkerstrafgesetzbuches verfolgt werden.

Der Wunsch nach Frieden ist in der Bevölkerung überwältigend, aber Initiativen, die diesem Wunsch Ausdruck verleihen, sind einer subtilen Diffamierung ausgesetzt. In grotesker Umkehr des politischen Spektrums und mit der schon besprochenen Technik der Verklammerung rückt man Menschen, die für Frieden eintreten, politisch nach »rechts«, während umgekehrt eine Partei, die einst der Friedensbewegung nahestand, die neue politische Farbe olivgrün angenommen hat.

Es fällt aber auch auf, dass diejenigen Politiker, die noch die unmittelbaren Folgen des Krieges erlebt haben, in ihrem Denken und Handeln dem Frieden weit mehr verpflichtet waren. Der ehemalige Planungschef im Bundeskanzleramt und Publizist Albrecht Müller schrieb jüngst einen aufrüttelnden Kommentar, wie wenig eine gute Nachbarschaft der Völker Europas den heutigen Politikern noch wert ist. Der Theologe Eugen Drewermann vertritt seine pazifistischen Thesen mit wohl einzigartiger Überzeugungskraft. Diese Stimmen erhalten in den Medien aber kein großes Forum.

[1] Anstatt über Waffen und Abschusseinrichtungen zu sprechen, scheint der Westen im Moment nur öffentliche Beschuldigungen zu setzen – ein Verhalten, das kein ernsthaftes Bemühen um Abrüstung erkennen lässt.

[2] Der ehemalige UN-Biowaffeninspekteur und Abgeordnete Jan van Aken hat jahrelang seine Reden im Bundestag mit der Aufforderung beendet, Deutschland möge gar keine Waffen exportieren – vergeblich.

[3] Drei Überschriften aus Tagesspiegel, FAZ und Spiegel.

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