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Dauerregen im Paradies: So überleben Ostseeurlauber in Sturm und Kälte

Dauerregen im Paradies: So sieht es aus, wenn Ostseeurlauber aus ihren Zelten schauen.

Sturm, Kälte, Regen - die deutsche Ostseeküste gilt inmitten der weltweiten Rekordhitzewelle als eisige Alternative. Ein Hitzeschutzraum von mehreren hundert Kilometern Länge, in dem sich Hunderttausende Urlauber verzweifelt gegen Langeweile, Tristesse und Unterkühlung wehren. Aber wie überleben die Betroffenen die kältesten Tage des Sommer? Ein Besuch an unwirtlichen Orten zwischen nassem Sand, feuchten Zelten und dem gebannten Blick auf Wetter-Apps.

Trübsal blasen in den Dünen

Es sollten die schönsten Wochen des Jahres werden, auch wenn sie aufgrund des russischen Überfalls auf die Ukraine kaum mehr zu bezahlen sind. Und doch steht Jens Aplasus jetzt mit hängendem Kopf an der Waschrinne Auf Dem Zeltplatz in Dierhagen und bläst Trübsal. "Es ist der fünfte Regentag in Folge", klagt der Mann aus Franken und zuckt mit den Schultern. Normalerweise, betont er, sei er als langjähriger Ostseeurlauber Kummer gewohnt. Nicht immer treffe man die ersehnten Hitzewellen mit der eigenen Urlaubsplanung. Nicht immer ist das ostdeutsche Urlauberparadies wirklich ein "Land zum Leben", wie Mecklenburg-Vorpommern selbstbewusst für sich wirbt.

Aber diesmal. Aplasus knurrt ungehalten. "Hitze, die macht uns absolut gar nichts aus." Für andere mag eine nie dagewesene Rekord-Hitzewelle Anlass sein, sich im Schatten zu verstecken. "Wir gehen an den Strand." Nicht aber in diesem Jahr. Der 38-jähriger Familienvater packt seine Töpfe und Teller zusammen und marschiert zurück zum Zelt in Reihe 44 des weitläufigen, eng mit Leinwandvillen bestandenen Areals. Mittlerweile sei der Urlaub hier doppelt so teuer wie früher, aber auch unerträglich. "Nur Regen, Kälte und Feuchtigkeit, dazu Sturm und Nässe, die sich klamm überall festsetzt." Für die Kinder sei es eine Qual, für die Eltern ebenso. "Wir selbst üben Duolingo, aber die Kleinen zittern und frieren, sobald sie zehn Minuten am Strand Sandburgen gebaut haben."

Urlaub im Schlafsack

Jeden Morgen, sagt der Heizungsmonteur, stehe er um sieben Uhr auf, gehe vor die Tür und hole Brötchen im Zeltplatzkiosk. Dann folge das Frühstück und danach verschwinde seine Frau meist auch gleich wieder im Schlafsack. "Sie liest dann, weil es viel mehr anderen nicht zu tun gibt." Aplasus hat anfangs noch versucht, das, was er als "mieses Wetter" bezeichnet, zur Stärkung der eigenen Fitness zu nutzen. "Ich bin jeden Tag mehrere Stunden gelaufen." Marathon, sagt er, lächelt aber: "Einen halben!"

Die Umstände aber ließen es bald nicht mehr zu. "Meine Laufsachen sind einfach nicht getrocknet." Deshalb sitzt der erklärte Ostsee-Fan, der seit 30 Jahren regelmäßig auf dem Zeltplatz "Freiheitsmöve" zu Gast ist, jetzt oft schon  um kurz nach elf Uhr im Pub "Zur letzten Briese" und unterhält sich mit anderen Verzweifelten bei einem Frustbier über die Wetteraussichten. Um ihn herum sitzen andere Frustrierte, die meisten leise und müde. Politik spielt hier kaum eine Rolle, deutlich zu spüren aber ist die Angst vor dem Voranschreiten des Klimawandels. Im Hintergrund surrt eine Klimaanlage, die ein wenig warme Luft in den Raum bläst, auf einem Fernseher an der Wand laufen Nachrichten aus Berlin.

Nässe in den Knochen

Heißen Tee mit Schuss hat sich Aplasus nun kommen lassen, denn "die Nässe frisst sich in die Knochen". Fest faltet er die Hände um den Thermobecher, er hat noch nicht aufgegeben, aber die Hoffnung schwindet, in diesem Jahr noch ein paar wenige Tage Sommer abzubekommen. "Schauen Sie sich um", rät er dem Reporter, "was aussieht wie ein normaler Treff von Trinkern, die mit dem ersten Bier nicht bis zur Sportschau warten können, ist in Wahrheit ein Lebensrettungsprogramm."

So lange Aplasus hierher kommt, in eine Region die von Rückbesinnung vieler Deutscher auf den Heimaturlaub auf eigener Scholle profitiert hat wie keine andere, so lange hat eine Schlechtwetterwelle noch nie angehalten. "Wir haben immer durchwachsene Tage, das ist hier ja nicht das Mittelmeer." Aber dieses Mal fühle er sich wie auf den Lofoten. "Wir schauen jeden Abend, ob wir Nordlichter sehen."

Schlechtgelaunt und angetrunken

Eingezwängt zwischen Dünen und Fichten, viel zu dicht bebaut mit Zelten und bevölkert von Menschen, die schlechtgelaunt und ab Mittag oft angetrunken sind, erleben die Urlaubsgebiete an der Ostsee einen Rekordsommer mit Hitzetoten befürchtet. Bis jetzt zählen Meteorologen in Rostock-Warnemünde bereits die vierte Woche ohne die erwartete Klimahitze. Blass statt braun schleppen sich Urlauber in Ausstellungen und in die wenigen Kinos, sie besuchen gefälschte Terrakottasoldaten und Vogelwanderungen. "Viele aber haben gar keine Gummistiefel dabei und keine Regenschirme." 

Und die gefährlichsten Tage des Jahres kommen erst noch. Bleibt die sommerliche Wärme weiterhin aus, könnten Kälte, feuchte Luft und klamme Zelte "das neue Covid für ältere Menschen" werden, wie die New York Post bereits warnte. Nachgewiesen ist, dass Kälte Jahr für Jahr viermal so viele Menschenleben fordert als Hitze, alle Berechnungen aber fußen noch auf normalen Umständen mit kalten Wintern und warmen Sommern. Nun aber weinen Mütter, die ihre Kinder seit Tagen mit Mensch-ärgere-Dich-nicht-Spielen von der Tragödie vor dem Zelt abzulenken versuchen. Das urlauberunfreundliche Wetter führt zudem dazu, dass Gaststätten überbelegt und Tauchschulen geschlossen sind. "Der Andrang verschärft den Fachkräftemangel", hat Jens Aplasus beobachtet.

Hustende Camper

Längst gehen Gerüchte um. Täglich, so heißt es, kollabierten 20 bis 25 Besucherinnen und Besucher. Bademeister bekämen regelmäßig Wärmflaschen vorbeigebracht. Im Inneren ihrer zugigen Ausgucke  sollen in den vergangenen Tagen Temperaturen von unter acht Grad gemessen worden sein. Auf den ersten Blick ist die Lage in den großen Betonbunkern nebenan entlang der gesamten Küste besser. Doch was in den tausenden von kleinen Zimmern und überbelegten Pensionen wirklich passiert, ist tatsächlich viel besorgniserregender als ein paar hustende Camper: Auch viele Hotelzimmer sind nicht beheizt und wenn die Temperaturen wie zuletzt über mehrere Tage hinweg auf unter zehn Grad sinken, sind die Regierungsvorgaben von mindestens 19 Grad kaum mehr einzuhalten.

Aufwärmen? Jens Aplasus hebt die Hände. Früherm, ja, früher hätten er und seine Leidensgenossen sich in solchen Situationen selbst geholfen. "Wir haben große Lagerfeuer angezündet und uns und unsere Familien richtig durchgewärmt." Wegen der hohen Waldbrandwarnstufe sei das nun aber verboten. "Die Damen und Herren", schimpft der Dauercamper, "spielen weiter heile Urlaubswelt und wissen gar nicht, wie gefährdet viele Menschen hier sind."



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