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Goethes Vergewaltigungs-Gedicht: Kunstfreiheit oder „widerwärtig“

Ein Vorbild für viele Rammsteinische Vergewaltigungsfantasien: Goethes in den Schulen gelehrtes "Heideröslein", das einen brutalen Missbrauch idealisiert.

Es geht um Blumen, um die Natur, um einen Jungen, der draußen spielt und im Überschwang seiner erblühenden Männlichkeit jede Rücksichtnahme auf die ihn umgebende Natur vermissen lässt. Im wilden Toben, das Johann-Wolfgang von Goethes Gedicht "Heideröslein" schildert, ist das Brechen von Zweigen zu hören, es fließt Blut und wie heute die gesamte deutsche Menschheit scheint auch bei Goethe der Mensch mit der Umwelt zu ringen. Du oder ich? Wer von uns beiden?  

Von wegen freundliches Volkslied

Die drei Verse,  vermutlich im Sommer 1771 in Straßburg entstanden, schrieb Goethe mit 22 Jahren, doch die seit Jahrzehnten in unzähligen Schulstunden gelehrte Lesart vom netten volkstümlichen Gedicht, das auch als Volkslied gesungen und von vielen Komponisten, darunter Franz Schubert, vertont wurde, weil es so schön sei, ist nach Überzeugung der Sprach- und Sprech-Expertin Frauke Hahnwech kaum mehr länger haltbar. Vor dem Hintergrund der aktuellen Diskussion um männliche Machtfantasien in Kunst und Kultur und sogenannte Vergewaltigunsggedichte hat die als Gebärdendolmetscherin im politischen Berlin tätige Logotipistin aus Bitterfeld bei einer Tiefenanalyse Abgründe in Goethes Jugendwerk entdeckt.

Bei Goethes jungem und morgenschönem "Röslein" handele es sich danach zweifelsfrei nicht um eine Blume, sondern um eine junge Nachbarin des aus Frankfurt am Main stammenden Juristensohnes. Das von Goethe geschilderte Abknicken der Pflanze stehe kaum verschlüsselt für einen Missbrauchsakt - eine Methode, die im poetischen Werk aktueller Kulturschaffender Rückschlüsse auf deren Privatleben zulässt. Hahnwech: "Der Mann kündigt brutal seine Absichten an: 'ich breche dich', die Frau antwortet mit einem eindeutigen ,ich will’s nicht leiden' - dann aber kommt doch die schockierende Zeile ,der wilde Knabe brach’s Röslein auf der Heiden".

Goethe wollte provozieren

Goethe, eine Art Till Lindemann seiner Zeit, habe damals wohl provozieren wollen, um ein Thema zu verarbeiten, das ihm nahe war. Geschützt durch seine Popularität und die Kunstfreiheit, auf die sich Kunstschaffende immer wieder berufen, kam er damals ungeschoren damit durch. "Aber das ist bei sexuellem Missbrauch völlig fehl am Platz", urteilt Frauke Hahnwech, die selbst als Mediennutzerin vielfach betroffen ist von Fällen, in denen Vergewaltigungsfantasien zuerst in Poesie verpackt und dann wegen ihres hohen Erregungspotenzials rasch als Empörung verkauft werden. 

Die Verschlüsselung, die der bis heute als "Dichterfürst" gerühmte Goethe wählte, ist denkbar schwach. "Jeder, der sich dieses Machwerk eine Minute lang konzentriert anschaut, erkennt, dass es nicht um Blumen geht, sondern um Frauen und Fassaden, also um Sexismus, Maskulinismus und explizit sexualisierte Gewalt, die unter freiem Himmel vollzogen wird. 

Klare Ablehnung artikuliert

Von einer Einverständniserklärung keine Spur, so Hahnwech. Klar werde hingegen die Ablehnung artikuliert. "Juristisch ist das unanfechtbar." Vergewaltigung wird hier nicht nur beschrieben, sondern auch verherrlicht: Als das "Röslein" sich wehrt und ihren Peiniger sticht, in höchster Verzweiflung offenbar, vermag den das nicht zu erweichen oder zu überzeugen, von seinem Übergriff abzulassen. Er, der Täter, wird von Goethe womöglich aufgrund eigener Erfahrungen als der eigentlich am schlimmsten Betroffene beschrieben: "Half ihm doch kein Weh und Ach, mußt’ es eben leiden."

Die Perspektive des Mannes, der sich als "Knabe" darstellt, ist die eines steinzeitlichen Brusttrommels. Für Goethe nicht ungewöhnlich: der von den reichen und Mächtigen ausgehaltene Poet bevorzugt in allen seinen Werken schwache Frauenfiguren, das Gretchen aus "Faust" ist 14 Jahre alt und nicht nur naiv, sondern dumm. Für den Dichter sind Frauen "aus krummer Rippe erschaffen; Gott konnte sie nicht grade machen" (Goethe), erlebt, wie er dichtet, festhaltend an einem mittelalterlichen Rollenverständnis, nach dem seine Frau Christiane für die häuslichen Pflichten und die Erziehung zuständig war.  Wir haben es hier mit einem Mann zu tun, der sich seiner brutalen Vorlieben nicht schämt und auch nicht bereit ist, sie zu kontrollieren."

Vergewaltigungshymne als Schulstoff

Dass ein derart offen eine Vergewaltigung rühmendes "Gedicht" bis heute Schulstoff sei, von angesehenen Verlagen weiterhin veröffentlicht werde und selbst herausragende und als progressiv bekannte Künstler die äußerst fragwürdige Vorlage nutzten, um Quote zu machen, hält Frauke Hahnwech für ein Alarmsignal. "Wir sind als Gesellschaft noch lange nicht da, wo wir uns wähnen", warnt sie. So lange die Öffentlichkeit Leute wie Goethe gewähren lasse, werde das als Einladung verstanden, klassische patriarchale Kunsttraditionen zu reproduzieren, in denen Frauen als "Blumen" gesehen werden, die der männlich gelesene Künstlernde am Wegesrand pflückt, wenn ihm danach ist.


Sah ein Knab’ ein Röslein stehn,
Röslein auf der Heiden,
War so jung und morgenschön,
Lief er schnell es nah zu sehn,
Sah’s mit vielen Freuden.
Röslein, Röslein, Röslein roth,
Röslein auf der Heiden.

Knabe sprach: ich breche dich,
Röslein auf der Heiden!
Röslein sprach: ich steche dich,
Daß du ewig denkst an mich,
Und ich will’s nicht leiden.
Röslein, Röslein, Röslein roth,
Röslein auf der Heiden.

Und der wilde Knabe brach
’s Röslein auf der Heiden;
Röslein wehrte sich und stach,
Half ihm doch kein Weh und Ach,
Mußt’ es eben leiden.
Röslein, Röslein, Röslein roth,
Röslein auf der Heiden.
 



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