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Nord Stream: Was wir nicht wissen und warum das sehr gut ist

Auf dem Meeresgrund am Tatort konnten umfangreiche Spuren gesichert werden.

Seit den Explosionen an den Nord-Stream-Pipelines in der Ostsee hatte sich die Nachrichtenlage beruhigt. In aller Stille ermittelten dänische, schwedische und deutsche Polizeien, Geheimdienste und Justizbehörden, auch die Russen waren wohl dran, womöglich auch die Schweiz als das Land, in dem der Eigentümer der zerstörten Pipelines seinen Sitz hatte. So hektisch aber die ersten paar Tage nach den Explosionen gewesen waren, so ausnehmend ruhig war es anschließend geworden. Die erste Welle der "Was wir wissen"-Beiträge schwappte vorüber. Es blieb die Erkenntnis, Dass niemand nicht wusste. Eine zweite Welle blieb aus, weil sich in allen Redaktionen das Gefühl verdichtete, dass das wohl ganz gut so sei.

Mysterium auf dem Meeresgrund

Erst als der frühere Reporterstar Seymor Hersh am Schlaf der Gerechten rührte, schreckte die Branche ertappt auf. Das über fünf Monate anhaltende kollektive Schweigen angesichts eines Terroranschlages auf einen milliardenteuren Teil der kritischen deutschen Infrastruktur schien hier und da nun doch gehalten, ungemütliche Verschwörungstheorien zu befeuern. Wie aus dem Winterschlaf erwacht, machten sich die Besten der Besten daran, dem Mysterium auf den Grund zu gehen: Wie hatte jemand zwei Pipelines mitten im am gründlichsten überwachten Meer der Welt sprengen können, ohne dass es jemand beobachtete? Wie gelang es ihm zudem, die Sprengung so durchzuführen, dass selbst im Nachhinein weder deutsche Noch amerikanische, schwedische, dänische, russische oder polnische Ermittler auch nur eine Spur auf die Herkunft des Sprengstoffes, einen am Tatort verlorenen Pass oder verräterische Transpondermeldungen fanden, aufgefangen von den eigentlich weltweit dauerpräsenten Satelliten?

Wie Kai aus der Kiste war Nord Stream wieder da. Für einige Stunden lang zumindest überschlugen sich die verbeamteten Faktenfinder voller Übereifer beim Versuch, Seymor Hersh jede Seriosität abzusprechen. Der ehemalige Reporterheld war nur noch uralt, teilsenil, ein von Russland bezahlter Tölpel, dessen Arbeitsweise mit den anonymen Zeugen nun endlich mal grundlegend hinterfragt werden konnte. Einen Augenblick später wurde es wieder dunkel im Fundbüro für verschwundene Joint Investigation Teams (JIT), verblasste Schlagzeilen und Beweise aus Hörensagen. 

Nichts wissen schadet nichts

Was aber ist nun wirklich nicht bekannt? In Deutschland und mehreren anderen europäischen Ländern, jenseits des Atlantik und in Moskau? Was haben die deutschen Ermittler bislang zum Glück nicht herausgefunden, warum ist das sehr gut? Und wie lange wird es noch dauern, bis der erste ARD-Mehrteiler das Geschehen vor Bornholm in fiktionaler Form aufarbeitet, ergänzt um eine nachfolgende Talkshow derdes Annewill-Nachfolger*in unter dem Titel "Nord Stream - Mord Stream - was geschah am Meeresboden?"

Fakt ist heute schon, dass es tatsächlich zu mehreren Explosionen an den Nord-Stream-Pipelines in der Ostsee kam. Zwischen zwei und drei Uhr nachts kam es zu einer ersten Detonation unweit der dänischen Insel Bornholm, schwer beschädigt wurde eine Röhre der noch im Bau befindliche Ostseepipeline Nord Stream 2. Hofften erste Empfänger der Botschaft in Berlin noch auf ein Seebeben, ließ eine zweite Explosion einige Stunden später in mehr als 60 Kilometer Entfernung kaum noch Zweifel: Unbekannte griffen kritische deutsche Infrastruktur an.

Gelassenheit nach Großangriff

Das größte EU-Land aber, nach ein paar Raketenstarts und Böllerschüssen regelmäßig im Ausnahmezustand, ging mit der Attacke gelassen um. Ermittler wurden ausgesandt, weit hinaus aufs Meer, verstärkt um professionelle Taucher, wenn auch ohne Tieftaucherlaubnis der Berufsgenossenschaft. Vor Ort angekommen, drehte das Navy-CIS-Kommando wieder um. Schweden und Dänen beschlossen zudem, ihre jeweils womöglich gewonnenen Erkenntnisse am Ereignisort für sich zu behalten. In Deutschland zog die Generalbundesanwaltschaft das Verfahren selbstverständlich an sich. Dem Bundeskriminalamt gelangen mit Hilfe einer tauchtauglichen Drohne schon vier Wochen nach der Anschlag erste Aufnahmen vom Tatort in 80 Metern Tiefe. Deutlich zu sehen seien, so drang es nach außen, "große Löcher, die in den Röhren der Nord-Stream-Pipelines klaffen", die "teilweise  auf rund 50 Metern Länge aufgerissen" seien.

Die hoffnungsvolle These vom Seebeben war damit vom Tisch, Ende Oktober brach dennoch eine wagemutige deutsche Aufklärungsmission zur 100 Kilometer vor der deutschen Küste liegenden Insel Bornholm auf. Das zivile Forschungsschiff "Alkor" lief gedeckt vom Polizeischiff "Bamberg" aus, an Bord einen Unterwasserroboter. Der konnte dann tatsächlich Bodenproben rund um die beschädigten Gaspipelines nehmen und Trümmerteile bergen. Berichten der ARD zufolge gelang es sogar, Tatortwasser zu bergen. 

Vermutlich war es eine Explosion

Der Verdacht, es könne sich bei der Folge von verheerenden Detonationen um die "vorsätzliche Herbeiführung einer Sprengstoffexplosion und verfassungsfeindliche Sabotage", wie es der Generalbundesanwalt nennt, war nun kaum noch von der Hand zu weisen Zumal die Täter*innen "offenbar militärischen Sprengstoff verwendet hatten", wie die "Tagesschau" als Reaktion auf die Hersh-Vorwürfe mitteilte. Bekannt wurde nun auch, dass Schweden den verwendeten Sprengstoff bereits drei Monate zuvor identifiziert hatte, sich seitdem aber beharrlich weigert, Angaben zu Details zu machen. Proteste aus Berlin sind nicht bekannt, obwohl Justizminister Marco Buschmann anfangs angekündigt hatte, dass "die deutschen Behörden gemeinsam mit unseren europäischen Partnern aufklären werden, wer für die Sabotage an den Leitungen verantwortlich ist." 

Um Schaden vom deutschen Volk, von Staat, Regierung und den verschiedenen westlichen Bündnissen abzuwenden, ist es jedoch zwingend notwendig, zu wissen, wer es war, ehe man herausbekommt, wer es gewesen ist. Die Entdeckung eines falschen Täters droht, die Axt an die Basis der Beziehungen Deutschlands zu Partnerstaaten zu legen, noch existierende einseitige Vertrauensverhältnisse zu beschädigen und dem gemeinsamen Kriegsgegner zu nützen. Der Bundesnachrichtendienst assistiert dem BKA deshalb bei der Auswertung zu Daten, welche Schiffe und Flugzeuge in den Tagen und Wochen vor den Explosionen in Tatort-Nähe unterwegs waren. 

Die sogenannte russische Spur hat sich durch die bisherigen Erkenntnisse nicht erhärten lassen, sonst wäre das umfassend bekanntgemacht worden. Alle anderen theoretisch infragekommenden Täter dürfen sich hingegen sicher sein, dass sie es nicht gewesen sein werden, um den Frieden zu erhalten.



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