Sklaverei mitten in EuropaWillkommen in der vierten Welt
“Bei jedem Besuch im Supermarkt fühle ich mich wie ein Krimineller”, sagt Ville Tietäväinen. Der Finne hat gesehen, wie in Südspanien Obst und Gemüse angebaut werden. Dort arbeiten illegale Immigranten in einer modernen Form der Sklaverei. Der Zeichner hat darüber ein erschütterndes Buch gemacht
Nahezu täglich werden neue Zahlen vermeldet: Mal sind es Hunderte, zuletzt sogar Tausende Flüchtlinge, die von südeuropäischen Staaten im Mittelmeer aufgegriffen werden. Eine breite Diskussion darüber findet äußerst selten statt. Zuletzt war dies der Fall, als im vergangenen Oktober mehr als 300 Flüchtlinge kenterten und ums Leben kamen. Die damals angestoßene Debatte versandete allerdings recht schnell.
Warum wagen diese Menschen eine lebensgefährliche Reise nach Europa? Was sind ihre Hoffnungen und Träume? Was erwartet sie hier? Diese Fragen haben in der Diskussion um die Flüchtlinge sehr selten einen Platz. Der Finne Ville Tietäväinen ist ihnen nachgegangen. Er reiste nach Marokko und Südspanien, um jene Immigranten kennenzulernen, die die gefährliche Überfahrt überlebt haben und in riesigen Gewächshäusern arbeiten – illegal und unter unmenschlichen Bedingungen. “Als ich diese gewaltige Ungerechtigkeit sah, fühlte ich mich verpflichtet, sie darzustellen”, erzählt er im Gespräch mit n-tv.de.
Ein Meer aus Plastik
In Finnland lösten seine Zeitungsartikel zu dem Thema eine breite Diskussion aus. Nun legt Tietäväinen in Deutschland seinen Comic vor, der das Thema aufgreift und künstlerisch verarbeitet. Die Graphic Novel “Unsichtbare Hände”, erschienen im Avant-Verlag, ist ein erschütterndes Zeugnis über Unmenschlichkeit, Sklaverei und Ausbeutung mitten in der EU. Es ist eine Lektüre, die lange nachhallt, weil sie jeden betrifft, der im Supermarkt Obst oder Gemüse aus Spanien kauft.
Seit 2001 beschäftigt sich Tietäväinen mit dem Thema. “Ich wusste damals nichts über das Leben dieser Immigranten und auch nichts über diese riesigen Gewächshäuser im spanischen Almería”, so Tietäväinen. Die Gegend um die Hafenstadt wird auch “Mar del Plástico” genannt, Meer Aus Plastik, weil riesige Gebiete von den Folien der Gewächshäuser bedeckt sind.
Mit Hilfe des finnischen Sozialanthropologen Marko Juntunen reiste Tietäväinen 2005 nach Marokko und Südspanien. Während er in Marokko freundlich bei einer Familie aufgenommen wurde, gestalteten sich die Recherchen in Almería wesentlich schwieriger. “Die Immigranten dort misstrauen allen Europäern, weil sie mit uns keine guten Erfahrungen gemacht haben”, erinnert sich Tietäväinen. “Sie haben Angst, dass man sie deportieren könnte.” Schließlich fassten sie jedoch Vertrauen und zeigten den Finnen ihre Lebensverhältnisse. Nur die Arbeitsplätze blieben unzugänglich, weil sich die Besitzer dagegen sperrten.
Aus diesen Erlebnissen gestaltete Tietäväinen sein Buch. Es ist keine reine Dokumentation. Der Künstler hat die vielen Eindrücke zu einer fiktiven Geschichte destilliert, in der aber alle Orte und Charaktere einen realen Hintergrund haben. “Jede Figur vereint verschiedene Züge von Menschen, denen ich begegnet bin”, sagt der Zeichner. Dieser Kniff ermöglicht ihm, den Weg einer einzelnen Person von Marokko nach Almería und weiter nach Nordspanien zu verfolgen. “Mir ging es darum, dieses komplexe Thema möglichst tiefgreifend darzustellen, aus der Perspektive einer Person.”
Katastrophale Arbeitsbedingungen
Diese Person ist Rashid. Der Marokkaner, der bei seinen Eltern in einem Armenviertel von Tanger lebt, hat eine Frau und eine Tochter. Doch der Schneider kommt kaum über die Runden. Als er schließlich auch noch seinen Job verliert, folgt der den Verlockungen eines Schleppers und wagt zusammen mit seinem Freund Nadim die gefährliche Überfahrt nach Europa. Doch in Spanien angekommen, lösen sich alle Vorstellungen vom europäischen Paradies in Luft auf.
Rashid kann zwar in einer jener riesigen Gewächshäuser arbeiten, doch dort herrschen katastrophale Bedingungen: Die Immigranten hausen in notdürftigen Hütten aus Folien, ohne fließend Wasser, Strom und sanitäre Anlagen. Sie müssen stundenlang schuften und Ohne Schutzkleidung Pestizide versprühen. Vom Verdienst bleibt kaum etwas übrig, das sie nach Hause schicken könnten. Rashid etwa muss erst die Dienste des Schleppers abarbeiten. Statt seiner Familie ein besseres Leben zu ermöglichen, gerät er in eine moderne Form der Sklaverei. Und das alles unter der permanenten Furcht, als Illegaler abgeschoben zu werden.
Auf dem Gebiet um Almería arbeiten etwa 90.000 Menschen, 40.000 bis 60.000 davon sind Illegale. Das besondere an “Unsichtbare Hände” ist, dass Tietäväinen die Geschichte konsequent aus deren Sicht erzählt. “Mir ging es darum, dass die europäischen Leser Verständnis für die Immigranten aufbringen, für ihre Träume und Hoffnungen.” Dazu gehört, dass Tietäväinen zwar die Arbeitsbedingungen schonungslos aufdeckt, auf einer weiteren Ebene aber auch das Innenleben der Protagonisten ausleuchtet.
“In Marokko habe ich gesehen, welchen großen Anteil die Religion im Leben dieser Menschen einnimmt”, erzählt er. Vor allem habe er gemerkt, wie unterschiedlich die Glaubensausrichtungen sind. “Ich möchte den Lesern zeigen, dass die Muslime kein großer, monolithischer Block sind, sondern dass es viele verschiedene Glaubensrichtungen gibt, die da aufeinanderprallen.” So kommen in einer Schlüsselszene des Buches etwa zwei Islamisten zu den Immigranten, um sie für den Dschihad anzuwerben, stoßen jedoch auf taube Ohren. Die Immigranten haben ganz andere Probleme.