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Gerechtigkeit durch Wiedergutmachung – Eine Friedenskommission für den Ukrainekonflikt nach dem Modell der südafrikanischen Wahrheitskommission?

Mahatma Gandhi hat einst erkannt: „Es gibt keinen Weg zum Frieden, Frieden ist der Weg“. Die derzeit drängendste Frage fast zwei Jahre nach dem völkerrechtswidrigen Einmarsch Russlands in die Ukraine am 24. Februar 2022 muss lauten, wie wieder Frieden in Europa hergestellt werden kann. Auch wenn es im Rahmen von Friedensverhandlungen zunächst um die Frage nach territorialen Ansprüchen gehen wird muss irgendwann auch geklärt werden, wie am Ende des Konflikts mit den während des Krieges begangenen Menschenrechtsverletzungen beider Seiten umzugehen ist. Gibt es Alternativen zu einer strafrechtlichen Verfolgung der Tatverantwortlichen vor nationalen bzw. internationalen Gerichten? Käme die Einsetzung einer Art von Wahrheitskommission nach dem Ende des Ukrainekonflikts in Frage, und welche Vorteile hätte dies? Ein Kommentar.

Es sind bereits jetzt so viele Straftaten seit Beginn des Krieges am 24. Februar 2022 begangen worden, Dass feststeht, dass nicht von einer umfassenden Ahndung ausgegangen Werden kann. In einer Presseerklärung vom 10. September 2023 der Vereinten Nationen ist von 103.000 mutmaßlichen Kriegsverbrechen die Rede. Eine Blankett-Amnestie erscheint unbillig und dürfte völkerrechtlich auch unzulässig sein.

Die südafrikanische Wahrheitskommission als Modell?

Als Modell könnte die südafrikanische Wahrheitskommission (TRC) dienen. Das Amnestiekomitee hatte die Befugnis, einzelnen Tätern unter bestimmten Voraussetzungen strafrechtliche und zivilrechtliche Amnestie zu gewähren. Voraussetzung dafür war unter anderem, dass die Antragsteller ihre Taten umfassend gestanden (full disclosure). Dies war das Ergebnis eines politischen Kompromisses, das den friedlichen Übergang zu der Präsidentschaft Mandelas 1994 sicherte.

Der ANC selbst hatte schon früh zur Aufklärung der Menschenrechtsverletzungen, die insbesondere in ANC-Camps durch ANC-Mitglieder außerhalb Südafrikas begangen worden waren, die Einsetzung einer Wahrheitskommission gefordert. Der erste Justizminister unter Nelson Mandela, Dullah Omar, setzte sich neben Albie Sachs, Kader Asmal und Alex Boraine umgehend für die Einsetzung einer solchen Wahrheitskommission für die Aufarbeitung aller während des Apartheidregimes begangenen Menschenrechtsverletzungen und einer Regelung für eine Individualamnestie ein.

1995 wurde – nach monatelangen Beratungen mit vielen Zivilgesellschaftsorganisationen, insbesondere den Kirchen und sämtlichen politischen Parteien sowie Durchführung von über 30 Konferenzen und Workshops – durch Parlamentsgesetz die südafrikanische Wahrheits- und Versöhnungskommission ins Leben gerufen. Erzbischof Desmond Tutu wurde zum Vorsitzenden ernannt. Der Forderung der Regierungsmitglieder der National Party nach Amnestie wurde insoweit entsprochen, als Täter Individualamnestie erlangen konnten, wenn sie ihre Taten, soweit sie politisch motiviert waren, vor dem Amnestiekomitee umfassend einräumten. Die Postambel der neuen Verfassung von 1994, überschrieben mit: National Unity and Reconciliation“ sah die Möglichkeit für Individualamnestie ausdrücklich vor. Der Forderung vieler Mitglieder von Freiheitsbewegungen nach Gerechtigkeit und Wahrheit durch Strafverfahren konnte insoweit entgegengekommen werden, als über human rights violation hearings und amnesty hearings (Opfer- und Amnestieanhörungen) sowie institutional hearings (Institutionsanhörungen) ein möglichst umfassendes Bild von der Vergangenheit nachgezeichnet werden sollte. So lautete das Motto der Wahrheitskommission: Truth – the Road to Reconciliation (Wahrheit – der Weg zur Versöhnung).

Im Rahmen der Anhörungen vor der Wahrheitskommission wurde stark differenziert zwischen den Opferanhörungen (human rights violation hearings) und den Amnestieanhörungen (amnesty hearings). An den Opferanhörungen nahmen keine Tatverantwortlichen teil. Zu den Amnestieanhörungen waren neben den Antragstellern auch Opfer geladen, soweit sie noch lebten, um anhand ihrer Schilderungen die Richtigkeit der Aussagen der Antragsteller zu überprüfen. Wenn sich also die Opfer vor dem Amnestieausschuss ihren Tätern gegenübersahen, glich dies zuweilen einem Gerichtsverfahren. Die Opfer mussten sich den Fragen der Rechtsanwälte der Antragsteller stellen und hatten (lediglich) die Rolle von Zeugen. Alex Boraine weist darauf hin, dass es trotz Berufung auf Befehlsnotstand durch die Antragsteller im Rahmen der Amnestieverfahren überwiegend zu einer Verantwortungsübernahme (accountability) gekommen sei. Darin sieht er die Stärkung rechtsstaatlicher Errungenschaften, die sonst durch ein Gerichtsverfahren erfolge.

Eine umfassende Amnestie für schwere Menschenrechtsverletzungen mag dem Leser auf den ersten Blick ungerecht vorkommen. Zu wenig bekannt ist, dass Forschungen zu Opferinteressen weltweit ergeben haben, dass es für Opfer vielfach wichtiger ist, die Wahrheit über das Geschehene zu erfahren und auch, dass der Täter Verantwortung für seine Tat übernimmt, als eine Bestrafung oder selbst Wiedergutmachung. Der ehemalige südafrikanische Verfassungsrichter und ehemals Verfolgte des Apartheidregimes, Albie Sachs, hält die Errichtung und Anwendung der neuen Verfassung in Südafrika neben der Einführung des allgemeinen Wahlrechts für die wahre Entschädigung der Opfer.

Viele Mythen, die das Apartheidregime bis 1990 veröffentlicht hatte, konnten über die Medien richtiggestellt, viele bisher geheime Operationen der Sicherheitskräfte konnten aufgedeckt werden. Viele Vorfälle hätten nicht aufgeklärt werden können, wenn die Täter nicht selbst in ihren Amnestieanträgen und vor allem in den Amnestieanhörungen die Einzelheiten der von ihnen begangenen Verbrechen preisgegeben hätten. Über 7.000 Amnestieanträge wurden gestellt. An die 75 % der Antragsteller, die die Voraussetzungen erfüllten, erhielten Amnestie. Daneben konnten 21.297 Opfer schriftlich und über 2.000 auch mündlich öffentlich ihre Leidensgeschichte erzählen. 46.496 Verbrechen kamen zur Sprache, denen 28.750 Menschen zum Opfer gefallen waren.

Während der Opferanhörung standen die Opfer mit ihrer Geschichte, ihren Gefühlen und Bedürfnissen ganz im Vordergrund des Geschehens. Auch erschienen sie nie allein vor der Kommission, sondern ihnen wurde vor, während und nach der Anhörung ein Mitarbeiter der Kommission an die Seite gestellt (sog. briefer). Die Anhörungen hatten etwas sehr Würdevolles an sich. Zu Beginn eines Anhörungstages wurde gemeinsam mit allen Zuschauern im Stehen die südafrikanische Nationalhymne, Nkosi Sikelel´iAfrika, gesungen, die Kommissionsmitglieder begrüßten die Opfer und die Anwesenden sehr herzlich und stellten ihre Fragen an die Opfer in sehr mitfühlender Art und Weise. Eine ältere Dame, deren Enkelsohn willkürlich ermordet worden war, weil er zur falschen Zeit am falschen Ort war, erklärte vor dem Human Rights Violation Committee in Cradock (Eastern Cape) im Frühjahr 1997, dass sie allein durch die Tatsache, dass sie heute hier angehört werde und aussagen dürfe, ihre Würde als Mensch zurückerhalte.

Neben den Täter – und den Opferanhörungen erfolgten auch Anhörungen von Repräsentanten aus Presse, Wirtschaft, Militär, Kirchen, Gesundheitswesen, Gefängniswesen, politischen Parteien etc. vor der Wahrheitskommission. Darin wurde die umfassende Verantwortlichkeit dieser Institutionen für die allgemeine Stimmung, in welcher die individuellen Menschenrechtsverletzungen geschehen konnten, adressiert. Viele von denen, die in diesem Rahmen vor der Kommission ausgesagt haben, hatten die Größe, sich für die Rolle, die sie gespielt hatten, zu entschuldigen.

Wie erfolgsversprechend ist ein Sondertribunal für den Ukrainekonflikt?

Seit dem 24. Februar 2022 beschäftigt die Welt der kriegerische Konflikt in der Ukraine. Es kann nicht früh genug danach gefragt werden, wie juristisch auf den Einmarsch der russischen Armee in das souveräne Staatsgebiet der Ukraine und insbesondere auf die dort begangenen Menschenrechtsverletzungen (beider Seiten) zu reagieren ist. Schon am 2. März 2022 hat der Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH), Karim A. A. Khan, nach geltendem Verfahrensrecht ein förmliches Ermittlungsverfahren „zur Situation“ bezogen auf Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit in der Ukraine eröffnet.

Problematisch daran ist allerdings, dass weder die Ukraine noch Russland Vertragsstaaten des Internationalen Strafgerichtshofes sind. Die Zuständigkeit ergibt sich hier aus einer (zweiten) Unterwerfungserklärung der Ukraine aus dem Jahr 2015 und der Überweisung der Situation der Ukraine durch mittlerweile insgesamt 41 Vertragsstaaten des IStGH-Statuts, darunter Deutschland.

Vielfach wird die Errichtung eines Ad-hoc Tribunals gefordert, um insbesondere die durch russische Soldaten begangenen Menschenrechtsverletzungen zu ahnden. Die Errichtung von Sondertribunalen erfordert am Ende einen Sieger und einen Besiegten. Der norwegische Kriminologe Nils Christie wies schon 2001 darauf hin, dass es stets die Banditen der anderen Seite seien, die vor Gericht gestellt werden und äußerte Zweifel daran, dass Sondertribunale zur Schaffung sozialen Friedens beitragen könnten. Eine Aufarbeitung der begangenen schweren Menschenrechtsverletzungen muss „farbenblind“ erfolgen und die Verbrechen ukrainischer Staatsangehöriger ebenso wie russischer Staatsangehöriger umfassen.

Die Ukraine hat im Frühjahr 2022 damit begonnen, Strafverfahren gegen russische Staatsangehörige für auf ukrainischem Territorium begangene Straftaten anzustrengen. Besonders problematisch sind die hohen Strafen für russische Soldaten, die gestehen, mit den Behörden kooperieren und sich z.T. selbst gestellt und Reue zum Ausdruck gebracht haben. Dies dürfte nicht dazu führen, dass in späteren Verfahren weiterhin mit den Ermittlungsbehörden kooperiert wird oder gar Geständnisse abgelegt werden. Das ist bedauerlich, da bei Vorliegen von Geständnissen, insbesondere bei Selbstanzeigen der Ermittlungsaufwand deutlich geringer ist, was bei der Flut an anstehenden Verfahren zunehmend von Bedeutung sein dürfte. Das erste Urteil erging am 22. Mai 2022 gegen Vadim Shishimarin wegen der Tötung eines Zivilisten und lautete auf lebenslange Freiheitsstrafe, was von der nächsten Instanz auf 15 Jahre Freiheitsstrafe reduziert wurde.

Diese Gerichtsverfahren werfen die Frage auf, wie unabhängig die Justiz eines Landes sein kann, das während laufender kriegerischer Auseinandersetzungen Gerichtsverfahren nur gegen eine Seite durchführt. Schon Stefanie Bock hat im Mai 2022 darauf hingewiesen, dass die Ukraine die Unabhängigkeit ihrer Justiz dadurch beweisen könne, dass sie „mit gleicher Konsequenz gegen die Kriegsverbrecher aus den eigenen Reihen vorgeht“. (An der Unabhängigkeit der Justiz hatte es vor dem 24. Februar 2022 auf EU-Ebene starke Zweifel gegeben.) Bis heute ist kein Verfahren gegen einen Soldaten mit ukrainischer Staatsangehörigkeit bekannt geworden. Stattdessen ist die Generalstaatsanwältin Iryna Venediktova, die auch Ermittlungen gegen ukrainische Staatsangehörige angestrengt hatte, im Juli 2022 entlassen und durch einen Getreuen des Präsidenten ersetzt worden.

In Russland werden wiederum hohe Haftstrafen gegen ukrainische Soldaten verhängt. So verurteilten nach Informationen der Tagesschau russische Gerichte in den letzten Monaten ukrainische Soldaten zu 26 Jahren Haft wegen versuchten Mordes und grausame Behandlung von Zivilisten. In beiden Staaten gibt es nach internationalen Maßstäben momentan keine unabhängige Justiz.

Vielleicht ist es auch zu viel verlangt, während laufender kriegerischer Auseinandersetzung gegen die eigenen Landsleute Ermittlungsverfahren einzuleiten. Aber wem eine echte Aufarbeitung des Geschehenen am Herzen liegt, der muss sich spätestens nach dem Ende des Konflikts für eine umfassende juristische Aufarbeitung einsetzen, die keine Nationalitäten bevorzugt oder benachteiligt.

Friedensförderung durch eine Friedenskommission?

Dem kann zunächst am ehesten eine Wahrheitskommission gerecht werden, die in diesem Falle Friedenskommission heißen sollte, weil der Begriff der Wahrheitskommission vor allem für innerstaatliche Konflikte gebraucht worden ist und es sich hier um einen Konflikt zwischen zwei unabhängigen Staaten handelt. Auch könnte eine solche Friedenskommission viel eher einen Beitrag leisten zur Förderung von Frieden und Versöhnung.

Bei der Auswahl der Mitglieder sollte auf ein Gleichgewicht zwischen ukrainischen und russischen Staatsangehörigen geachtet werden. Internationale Experten sollten in den Teams, die für die Anhörungen zuständig sind, die Anhörungen leiten. So könnte eine unparteiliche Anhörungsleitung gewährleistet werden können. Auch sollte ein Amnestieausschuss von einem internationalen Experten geleitet werden. Russische und ukrainische Staatsangehörige sollten paritätisch in allen Ausschüssen vertreten sein. Genf in der Schweiz (Stadt des Friedens) oder Montpellier in Frankreich (wo 1622 der Friedensvertrag von Montpellier geschlossen wurde zwischen Ludwig XIII und dem Duc de Rohan, Hugenottenführer) wären eine gute Wahl.

Entscheidend für den Erfolg einer Friedenskommission wäre die Kompetenz, individuelle Amnestie gewähren zu können. Es müssten unbedingt bestimmte Voraussetzungen für die Gewährung von Amnestien vorher festgelegt werden. Menschen, die für schwere Menschenrechtsverletzungen verantwortlich sind und sich weigern, im Rahmen eines besonderen Verfahrens vor einer solchen Kommission Verantwortung zu übernehmen, sollten sich dann später vor einem nationalen Gericht, vor internationalen Ad-hoc– oder Hybrid– Tribunalen oder dem Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag für ihre Taten verantworten müssen. Diese Friedenskommission wäre einer juristischen Aufarbeitung quasi nur vorangestellt. Die Wahrheitskommission hat gezeigt, dass Amnestieanträge nur gestellt werden, wenn eine spätere Strafverfolgung ernsthaft zu befürchten steht.

Opfer sollten unabhängig von den Amnestieanhörungen, begleitet und betreut durch Psychologen, öffentlich und in Würde ihre Geschichte erzählen können. Zeitnah zu der Anhörung sollten Opfer eine Entschädigung von einem eigens dafür einzurichtenden Opferfonds (peoples´ fund) erhalten. Zur Finanzierung sollten maßgeblich diejenigen, die vom Verkauf von Kriegsgeräten profitiert haben, herangezogen werden.

Auch sollte mitbedacht werden, dass Menschen, denen Amnestie gewährt wird, eine Entschädigung an die Opfer zu leisten haben, um das Unrecht wiedergutzumachen. Dies kann durch eine Geldleistung, ausgerichtet an ihren Vermögensverhältnissen, aber auch durch symbolische Leistungen erfolgen. Diese Entschädigungsleistung sollte neben weitere Entschädigungszahlungen treten, die von einem o.g. Opferfonds (people´s fund) zeitnah zur Anhörung gewährt werden. Damit kann der Eindruck vermieden werden, dass jemand, der Menschenrechte verletzt hat, mit einer Amnestie „billig“ davonkommt, während Opfer „leer“ ausgehen.

Wichtig für eine Aufarbeitung des Geschehenen ist die öffentliche, mediale Begleitung der Anhörungen, wie dies in Südafrika geschehen ist, wo alle Opfer- und Amnestieanhörungen (mit sehr wenigen Ausnahmen) öffentlich waren und Highlights davon in den Abendnachrichten ausgestrahlt wurden sowie in täglichen Radioberichten zu hören waren.

Ausblick

Desmond Tutu, der Präsident der südafrikanischen Wahrheitskommission, hat festgestellt, das zentrale Anliegen des Umgangs auch mit Systemunrecht sei „nicht Vergeltung oder Bestrafung, sondern ganz im Sinne von Ubuntu die Heilung von Brüchen, der Ausgleich von Ungleichgewichten und die Wiederherstellung zerbrochener Beziehungen“.

Das gilt auch, vielleicht sogar um so mehr, nach kriegerischen Auseinandersetzungen, wenn das Ziel sein soll, ein langfristiges, friedliches Miteinander zu ermöglichen.

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