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„Die meisten wollen einfach mal reden“: Einsamkeit im Alter

Immer mehr Menschen sind in unserer stark vereinzelten Gesellschaft von Einsamkeit betroffen. Gerade Ältere leiden besonders darunter, denn es ist für sie in der Regel schwierig, sich daraus zu befreien. Zudem schauen viele Menschen beim Thema Alterseinsamkeit oftmals lieber weg. Elke Schilling nimmt in ihrem Buch zum ersten Mal die Einsamkeit der Älteren gezielt in den Fokus. Es versucht, darüber ins Gespräch zu kommen, und zeichnet Lösungen und Wege auf, wie wir der Vereinsamung im Alter individuell und als Gesellschaft entgegenwirken können. Elke Schilling als Gründerin von Silbernetz ist eine ausgewiesene Expertin und zeigt auf, wie wir mit mehr Gemeinsamkeit unsere Gesellschaft stärken können.

»Nein, einsam bin ich nicht, ich habe nur die letzten drei Tage mit keiner Menschenseele reden können.«

Es waren Sätze wie dieser, die wir in den ersten Monaten am Silbertelefon immer wieder hörten. Nur die Zeitangaben waren verschieden: mal waren es »zehn Tage«, dann »in der letzten Woche«. Es war die Reaktion auf unseren ersten Slogan: »Keine Frage zu groß, kein Problem zu klein, kein Grund, damit allein zu sein – Silbernetz, das Hilfetelefon für ältere vereinsamte Oder isolierte Menschen.« Danach haben wir ihn geändert zu »einfach mal reden«. Das benennen tatsächlich die meisten der Anrufenden als einen Grund: »Wie schön, dass ich darüber einfach mal mit Ihnen reden kann!«

Über Tage hinweg nur die eigene Stimme zu hören oder den Fernseher, das Radio, Geräuschtapete zu erzeugen, um die komfortable oder schreckliche Stille zu übertönen, nicht erhört zu werden, das kann eine Begleitung frei gewählten, akzeptierten Alleinseins oder chronischer Einsamkeit sein.

Alleinsein und Isolation können in Umfragen zu Kontakthäufigkeiten, Anzahlen von Vertrauens- und Bezugspersonen und anderem statistisch gemessen, Single-Haushalte können gezählt werden. Für Einsamkeit gibt es kein objektives Maß. Sie ist wie Angst oder Hunger ein sehr persönliches Gefühl. Nur eine Person selbst kann feststellen, ob sie sich einsam fühlt oder ihr Alleinsein akzeptiert. Dazwischen ist jede Menge Spielraum, dessen Grenzen nur für den jeweiligen Menschen wahrnehmbar sind. Der Übergang von allein zu einsam kann fließend oder durch ein plötzliches Ereignis ausgelöst sein.

Eremiten sind selten geworden in unserer Zeit. Ihr Alleinsein war meist frei gewählt. Verbindung, Kontakt, Einssein definierten sie anders als Gemeinsamkeit, Nähe und Zugehörigkeit zu anderen Menschen. Ihre Entscheidung, sich selbst zu genügen, sich verbunden zu fühlen mit der Natur, mit Gott oder einer anderen Entität hieß auch, nicht auf die Hilfe und Unterstützung anderer Menschen angewiesen zu sein, um überleben zu können. Oder sie verfügten über das Wissen und die Möglichkeiten, sich in der bewussten, frei gewählten Distanz zu anderen Menschen dennoch genau die für dieses Überleben benötigte Unterstützung zu verschaffen. Dazu gehören auch die Selbstwahrnehmung und das Wissen um die persönliche Grenze, bei deren Überquerung frei gewähltes oder akzeptiertes Alleinsein allmählich oder plötzlich in Einsamkeit umschlägt, wo Selbsthilfe nicht mehr genügt, wo Verbindung, Kontakt und Unterstützung nicht mehr erreichbar scheinen, wo Autonomie in Hilflosigkeit umschlägt. […]

Um Einsamkeit zu untersuchen, definieren Forscher*innen Fragestellungen, mit denen dieses subjektive Gefühl beschrieben und so annähernd messbar und vergleichbar werden kann. Auch das sind Fragen nach Kontakthäufigkeiten und Zeiträumen, nach vorhandenen familiären und anderen verfügbaren Ansprechpersonen. Vor allem aber sind es Fragen nach der Intensität von damit verbundenen Gefühlen und Wünschen.

Wir sind soziale Wesen. Neben dem, was wir in unseren Genen mitbringen, sind es die Menschen in unserer Umwelt, die uns vom ersten Tag unseres Lebens an formen. Im Austausch mit den anderen entwickeln wir unser Selbst. Beobachtung und lebendige Kommunikation ermöglichen uns Lernen, Wachstum und Entwicklung, schaffen Sicherheit und Selbstbewusstsein. In Beziehung zu anderen entwickeln wir Gefühle von Geborgenheit, Dazugehören, Zustimmung und Teilhabe oder Trennung.

»Der Schmerz der Einsamkeit besteht darin, dass wir Teile unseres Selbst vermissen, die wir nur in der Begegnung mit anderen wahrnehmen können«, sagte Daniel Schreiber in einem Interview im Deutschlandradio zu seinem Buch Allein.

Das Gefühl von Einsamkeit ist zunächst eines der diversen Alarmsignale der Psyche, wie zum Beispiel Hunger oder Angst, das mit der Wahrnehmung angemessene Reaktionen auslösen soll. So kann für die Veränderung eines möglicherweise unerwünschten und vielleicht sogar bedrohlichen Zustandes gesorgt werden. Unsere Psyche stellt uns für solche Gefahrensituationen Reaktionsmuster und Energien zur Verfügung, derer wir uns bedienen können, wenn wir eine Gefahr wahrnehmen. Solche Verhaltensmuster sind Flucht, Erstarren oder Aushalten, Verhandeln, Angriff oder Verteidigung.

Im Tierreich ist zu beobachten, dass Einzelne in Gruppen bessere Chancen haben, Gefahrensituationen zu überleben, als allein. Schwarmintelligenz produziert Lösungen für komplexe Problemstellungen, die ein Individuum allein kaum finden kann. Der Schwarm, so zeigt die Forschung, bietet Schutz im Überlebenskampf, spart Energie und ermöglicht, Ausfälle der Einzelnen zu kompensieren. Das gilt in vielen Spielarten auch für Menschen. Das nigerianische Sprichwort »Um ein Kind aufzuziehen, braucht es ein ganzes Dorf« legt Zeugnis dafür ab. Es ist auch eine Erkenntnis der Schwarmforschung, dass nicht die Konformität, sondern die vorhandene Diversität die Entwicklung des Schwarmes begünstigt. Es muss Abweichungen von allgemeinen Mustern geben, damit notwendige Veränderungen und Fortschritt möglich werden.

Ich kann mich zurückziehen, mich auf mich selbst besinnen, zu mir kommen. Es ist der pure Luxus, in unserer verrückten Zeit der permanenten Reizüberflutung, der andauernden Beschallung mit Katastrophen- und Schreckensmeldungen zu sich selbst zu kommen. Sich gelassen der eigenen Endlichkeit bewusst zu werden, einfach zu sein. Konzentriert wahrzunehmen, was da auch sein kann: Stille, Achtsamkeit, Atem, ein Blatt, ein Vogelruf, die Biene an der Lavendelblüte auf meinem Balkon, der Widerschein des Sonnenlichtes am orangefarbenen Hausgiebel gegenüber, eine kleine Wolke am Himmel vor dem Fenster.

Meine Single-Wohnung, mein eigenes Zimmer kann mir Geborgenheit geben, Schutzraum für meine Eigenheiten und Basis meiner Autonomie sein. Das kann der Ort sein, an dem ich andere willkommen heiße, Beziehung und Kommunikation im von mir gestalteten Rahmen zulasse. Es ist der Schutzraum, in dem ich mein Hausrecht herstelle, meine Grenzen definiere, mich zeigen kann. Rückzug und Öffnung liegen bewusste Akte zugrunde, Entscheidungen, die ich jederzeit umkehren kann, über deren Folgen ich im Normalfall die Kontrolle habe. Was für ein Luxus!

Fühle ich mich einsam, kann dieser Ort zum Gefängnis werden. Ich bin für einen entscheidenden Moment oder auf Dauer nicht imstande, Beziehung, Kontakt und Kommunikation mit anderen herzustellen. Der gefühlte Mangel an sozialem Kontakt kann erdrückend wirken und in einen Kreislauf von Hilflosigkeit und einander verstärkenden Ängsten münden. Angst vor Enttäuschung, Ablehnung, Versagen, Verletzung. Angst vor der Wiederholung früherer schmerzlicher Erfahrungen, die sich andauernd wiederholende Bestätigung negativer Erwartungen. Das kann zum schrankenlosen Tummelplatz erlernter Hilflosigkeit werden. Ein Teufelskreis, dem aus eigener Kraft zu entkommen zunehmend unmöglich wird.

Das Gefühl kann ebenso überwältigend in einer großen Menschenmenge, in einem Freundeskreis, bei einer Party, einem Massenevent aufkommen wie in Situationen von Isolation oder Ausgrenzung. Einsamkeit wird gern als persönliches Defizit verstanden. Dann wird sie interpretiert als Mangel. Mangel an Beziehung, an Fähigkeit, Wille oder Kraft, einen solchen Zustand zu verändern. Darin liegt auch die Zuschreibung, »selbst schuld« zu sein. Das geht so weit, dass Außenstehende zur Vermutung gelangen, dass Betroffene es genau so wollen. Dann wird Freiwilligkeit unterstellt, wo möglicherweise schiere Hilflosigkeit der Sehnsucht nach Veränderung entgegensteht. Wer spricht schon gern darüber, defizitär, schuldig oder gar Opfer zu sein? Wer darf so etwas, ohne Reaktionen der Umwelt auszulösen, die diesen Teufelskreis weiter verengen?

Nicht der Moment, die kurze Phase von Einsamkeit ist ein Problem, sondern die Dauer und die Stigmatisierung. Erlebe ich dieses Gefühl und bin ich imstande, in einem angemessenen Zeitraum erfolgreich (wieder) Kontakt aufzunehmen, ist es eine stärkende Lernerfahrung für zukünftige Einsamkeitsmomente, wie sie in fast jedem Menschenleben und jedem Alter auftreten können. Es ist die Verstetigung dieses Gefühls, die Dauerstress produziert. Der wiederum schwächt physisch und psychisch, verschärft Krankheitsrisiken und verkürzt Lebenszeit.

Fast jeder Mensch kann irgendwann Phasen von Einsamkeit durchleben. Die Ursachen sind so vielfältig wie die Menschen, denen sie begegnen. Persönliche Eigenschaften, Erlerntes, Umgebungen und Haltungen, Lebensbedingungen, Gewalt, Grenzerfahrungen, Ausnahmesituationen und Diskriminierung, Verluste und Krankheiten, Veränderungsprozesse und Lebensübergänge, Scheitern, Selbstisolation, verinnerlichte Stereotype – das und vieles mehr kann zu Einsamkeitsgefühlen führen. Auch wenn einige dieser Faktoren altersspezifisch sein mögen, Einsamkeit kann jede*n treffen.

Der Beitrag „Die meisten wollen einfach mal reden“: Einsamkeit im Alter erschien zuerst auf Westend Verlag GmbH.



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