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„Willkommen in Auschwitz“: Warum wir Tadeusz Borowskis Erzählungen wieder lesen müssen …

Der polnische Auschwitzüberlebende Tadeusz Borowski war einer der ersten Autoren, der die Erfahrungen in den Konzentrationslagern der Nazis literarisch zu bearbeiten versuchte: „Willkommen in Auschwitz“ ist eines der wichtigsten Zeugnisse der Holocaustliteratur. Borowski schildert in seinen Erzählungen – 1963 erstmals auf Deutsch erschienen – die Entmutigung des Menschen in der peinigenden Situation der Lager und beleuchtet die Grenzen zwischen Gut und Böse, die zu verschwimmen beginnen, wenn man nicht mehr weiß, wie lange die Hoffnung auf Befreiung hält. Seine unfassbare Lakonie und seine klare Sprache erreicht jede Leserin und jeden Leser, und kein geringerer als der Nobelpreisträger Imre Kertész bezeichnete Borowskis Prosa als einen Schlüssel für sein Verständnis der Entmenschlichung in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Der Schriftsteller Artur Becker hat eine Neuübersetzung veröffentlicht, um Borowskis Vermächtnis neu zu beleben. Zum Jahrestag der Befreiung von Auschwitz schreibt Becker, warum wir Borowski mehr denn je lesen sollten.

Tadeusz Borowskis (1922‒1951) Erzählungen „Willkommen in Auschwitz“ gehören zu den wichtigsten Zeugnissen der Holocaust-Literatur und der literarischen Berichte über den Nazi-Terror auf polnischem Boden zwischen 1939 und 1945. Wie durch ein Wunder überlebte Borowski das Vernichtungslager ‒ auch seine Deportation ins KZ Dautmergen und später nach Dachau. Nach Dem Ende des Krieges konnte er über das Rote Kreuz seine große Liebe Maria Rundo, bekannt aus der berühmten Erzählung „Der Abschied von Maria“, wiederfinden. Sie ist ebenso in Auschwitz und dann in dem Frauen-KZ Ravensbrück gewesen.

Die beiden jungen Liebenden konnten einem viel zu frühen und schrecklichen Tod aus den Händen ihrer Folterknechte entgehen. So würde man vermuten, dass sie nach 1945 ein glückliches Leben in Friedenszeiten begonnen hätten, zumal Borowski eine rasante literarische Karriere in Deutschland, wo er sich bis 1946 aufhielt, startete und in der Volksrepublik Polen erfolgreich fortsetzte ‒ bis hin zum internationalen Erfolg. Aber Borowski hielt den psychischen Druck nicht aus, der auf ihm nach Ende des Krieges lastete, und beging mit 29 Jahren Selbstmord: wenige Tage nach der Geburt seiner Tochter, deren Mutter Maria war. Er schluckte Tabletten und drehte in der Küche das Gas auf.

Wir rätseln bis heute, was der eigentliche Grund für diese Entscheidung gewesen sein könnte. Die Erinnerungen an Auschwitz? An all die sinnlosen und unerträglichen Tode? Schuldgefühle, weil er sich mit den Kommunisten und Stalinisten eingelassen hatte? Auf ein gefährliches Propagandaspiel? Oder vielleicht doch eine unglückliche Liebe? Er hatte seine Maria, konnte er sie betrügen? Wir wissen nicht, was seine Beweggründe für den Suizid waren.

Borowskis Erzählungen, auch die, die nach 1945 spielen und von den Traumata der KZ-Überlebenden ein Zeugnis ablegen ‒ von der Zerstörung der menschlichen Psyche ‒, sind in Polen Klassiker, und für viele Kenner und Literaten wie etwa Imre Kertész gehören sie zum Besten, was dieses Genre im Kontext der industriellen Vernichtung von unschuldigen Menschenleben im Holocaust hervorgebracht hat.

Leider leben wir heute in einer Epoche, in der Albert Camus´ prophetische Worte, die er kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs in seinem Vortrag an der Columbia University in New York ausgesprochen hatte, Mehr und mehr wahr werden; er sagte nämlich, dass wir bloß nicht glauben sollten, das Gift des Hitlerismus sei nun mit dem Sieg über die Nazis und der Beendigung des Krieges beseitigt. Denn es stecke in jedem von uns.

Camus hatte wie immer recht, und seine Worte werden in unserer Zeit wieder oft zitiert; so neulich auch von dem holländischen Philosophen Rob Riemen, in dessen Heimat die Rechtsextremen unter der Führung Von Geert Wilders die Parlamentswahlen 2023 gewonnen haben. Eine Rückkehr Donald Trumps auf den Präsidentensessel in den USA ist nicht mehr ausgeschlossen, und dass in Polen die demokratisch-liberale Opposition die Wahlen gewonnen hat, ist auch nicht selbstverständlich. In Deutschland will man in manchen ostdeutschenGegenden, aber auch zunehmend am Rhein oder im Ruhrgebiet vom europäischen Zusammenhalt und Denken nichts mehr wissen. Die AfD ist de facto eine postneofaschistische Partei wie die Partei Orbans in Ungarn oder Melonis in Italien oder Le Pens in Frankreich. In Deutschland dreht sich wieder das Rad der Geschichte, aber in die falsche Richtung.

In einem Interview für die linksliberale Gazeta Wyborcza aus Warschau Ende Dezember 2023 sagte der Philosoph Rob Riemen (Autor von „Asyl für Europa? Die Wiederkehr des Faschismus“) in der Übersetzung von Annette Wunschel: „Wir verlieren ein gemeinsames Europa, weil wir die Warnung von Albert Camus nicht ernst genommen haben, dass der Krieg zwar vorbei ist, der Faschismus aber nicht, und zurückkehren kann. Was in den Niederlanden geschah ‒ der Wahlsieg von Geert Wilders ‒ könnte sich in Deutschland wiederholen, wenn die derzeitige Koalition zerbricht, in der Slowakei und im Jahr 2024 in den USA.“ Und: „Am wichtigsten ist die Verteidigung freier und unabhängiger Individuen und die Förderung derjenigen, die Verantwortung für das Gemeinwohl (Res publica) übernehmen. Währenddessen verherrlichen Faschismus, Nazismus und Kommunismus die kollektive Verantwortung, die nationale, die stammesbezogene und die kollektive im Allgemeinen. All dies geschieht direkt vor unseren Augen … Der Kern des europäischen Humanismus, das, was wir unsere Identität nennen, ist nicht das, was uns unterscheidet, sondern im Gegenteil das, was uns als Menschen verbindet. Wir müssen offen für den anderen sein, wir müssen menschlich sein, wir sind durch unser menschliches, geistiges Wesen vereint und nicht durch irgendwelche unterschiedlichen ‚Identitäten‘, wie es die Woke- und Cancel-Befürworter wollen. Ich denke mir hier nichts aus. Ich füge Anmerkungen zu dem hinzu, was große Geister bereits gesagt haben, z.B. Mann, Patočka, Havel und viele andere …“

Angesichts der Gefahr der Wiederkehr des Faschismus sind Borowskis Erzählungen „Willkommen in Auschwitz“ nicht bloß ein historisch-literarisches Zeugnis, sondern eine deutliche Warnung an uns Heutige: Wir scheinen immer noch nicht begriffen zu haben, wohin Radikale, Nationalismen, oberflächliche Ideen, nihilistische Aspirationen und fehlendes Vertrauen in Schönheit und Gerechtigkeit führen. Nämlich direkt zur Spaltung, Entmenschlichung des Gegners und zur Vernichtung allderjenigen, die gegen die Partei sind oder kein vermeintlich lebenswertes Dasein führen …

Borowski war ein Zeuge dieses giftigen Prozesses, in dem Antidemokraten einen Herrenmenschen etablieren wollten. Und er sprach mit der verzweifelten Stimme eines Künstlers und fragte sich, wie es nun mit der Menschheit weitergehen könne, wenn es nichts Rettendes, Beständiges und Transzendentes mehr gebe. Er hatte die totale Freiheit erlebt, in der alles möglich geworden ist, auch eine industrielle Vernichtung von Millionen von Menschen.

Riemens Warnungen haben aber keinen kassandrischen Charakter, da er die Realität beschreibt ‒ wie viele andere seiner Zunft, zum Beispiel Jason Stanley, Autor des klarsichtigen Buches „How Fascism Works. The Politics of Us and Them“, das im Juni dieses Jahres auch in der deutschen Übersetzung im Westend Verlag erscheinen wird.

Wir müssen Borowski wieder lesen, auf Warnungen unserer Philosophen und Künstler hören, und uns an der polnischen Opposition ein Beispiel nehmen, die bei den Wahlen 2023 mehr Wähler mobilisieren konnte als 1989 und parlamentarische Mehrheit gegen die rechtskonservative PiS-Partei erlangte, um die Zerstörung der Verfassung und der Demokratie zu stoppen.

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