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Eine Welt aus Wellen

»Es gibt nichts Ruhendes, nichts Feststehendes in diesem Universum«, schreibt Virginia Woolf. Als sie im Jahr 1931 den Roman Die Wellen veröffentlichte, warf sie damit so manches Gesetz, das bis dahin in der Literatur wirksam war, auf ähnliche Weise über den Haufen, wie Albert Einstein knapp drei Jahrzehnte zuvor mit seiner Relativitätstheorie die klassische Physik revolutioniert hatte. Der schwedische Mathematiker Per Molander erkundet in seinem Buch Eine Welt aus Wellen. Virginia Woolf und die moderne Physik die Analogien zwischen einem der bedeutendsten Romanexperimente des frühen 20. Jahrhunderts und der modernen Physik. Als zentrale Metapher dient dabei die Welle. Elegant bewegt sich Molander zwischen Virginia Woolfs Bestreben, eine Wirklichkeit darzustellen, die auch der Innenwelt des Menschen gerecht wird, und dem Anspruch der Physik, ein Bild der Realität zu entwerfen, das die Komplexität der äußeren Welt erfasst.

Zwischen Geistes- und Naturwissenschaften herrscht eine anhaltende wechselseitige Skepsis, die bisweilen in Feindschaft übergeht. Doch das war nicht immer so. Der Historiker Richard Holmes schildert in seinem 2008 erschienenen Buch The Age of Wonder, wie aufmerksam die erste Generation der Romantiker die Inbesitznahme unbekannter Territorien durch die Wissenschaften beobachtete und wie beeindruckt sie davon war. Es war der Durchbruch der Indus­trialisierung, der diese Haltung veränderte: Zerstörte Landschaften, gesundheitsschädliche Arbeits- und Wohnbedingungen und hemmungslose Kapitalakkumulation wurden mit Technik assoziiert und zugleich mit der Naturwissenschaft, auf der die Technik beruhte.

Und doch gibt es so viel Verbindendes – die Suche nach Einer Sprache, die Kreativität, die Metaphern.

Im späteren 19.Jahrhundert befanden sich sowohl die Künste als auch die Naturwissenschaften in einer Krise. Für diejenigen, die zur Avantgarde gehörten, erwiesen sich die vorhandenen Beschreibungs- und Erzählmuster als unzulänglich. Das führte zu Überprüfungen und Weiterentwicklungen.

Für bestimmte Zwecke taugten die traditionellen Werkzeuge jedoch nach wie vor. Ein breites Lesepublikum hatte kein Problem mit dem allwissenden Erzähler des klassischen Romans, der mit den Hauptfiguren schaltet und waltet, und so ist es bis in die Gegenwart geblieben. Im Bereich der Technik werden Brücken, Häuser und andere Alltagsgegenstände weiterhin auf traditionelle Weise gebaut, auf alten theoretischen Grundlagen, die in diesen Zusammenhängen ausgezeichnet funktionieren. Datengestützte Analysetools haben die Arbeit effizienter gemacht, aber die Mathematik ist im Grunde genommen dieselbe.

Wo sich Probleme zeigten, wurden sie mit kollektiver Anstrengung angepackt und mündeten dann in neue Theorien, eindrucksvoll, aber weit entfernt Von Der Perfektion. Der Weg zum Standardmodell der Teilchenphysik nach heutigem Zuschnitt war mit Nobelpreisen gesäumt, aber das Modell ist immer noch unfertig. Die große Vereinheitlichung der Naturkräfte ist bislang nicht gelungen. Um Probleme mit mathematisch unhandlichen Größen zu lösen, wurde ein Konzept namens Renormierung eingeführt, über dessen intellektuelle Tragfähigkeit unterschiedliche Meinungen kursieren. Die dunkle Materie, die es da draußen irgendwo geben muss, damit die Theorie mit den Beobachtungen übereinstimmt, wurde bislang nicht erklärt und ist alles in allem sehr schwer fassbar. Das Modell hinkt also.

Das Ganze erinnert an kollektive künstlerische Projekte wie die Artussage, die griechischen Mythen oder das Mahabharata, deren Stoffe über einen langen Zeitraum gesammelt wurden, von vielen Urhebern stammten und deshalb voller Fragezeichen und Widersprüche sind. Nicht einmal Romane sind vollkommen, obwohl meist nur ein einzelner Verfasser dahintersteht. Die Wirklichkeit sträubt sich, und der menschliche Geist hat seine Grenzen.

Trotzdem gab es bahnbrechende Fortschritte sowohl in der Physik als auch in der Literatur. Die neuen Beschreibungen und Erzählungen haben einen höheren Wahrheitsgehalt, aber sie widersprechen den tradierten Vorstellungen des »gesunden Menschverstandes« über die Beschaffenheit der Welt und werden deshalb nicht von allen begrüßt.

In einem der meistzitierten Werke der schwedischen Lyrik beschreibt Tomas Tranströmer Schweden als ein »an Land gezogenes, abgetakeltes Schiff«. Das Gedicht heißt Epilog und befindet sich in seinem Debütband 17 dikter (17 Gedichte) aus dem Jahr 1954. Das abgetakelte Schiff ist eine Metapher; niemand wird die Formulierung wörtlich nehmen. Was meinte Tranströmer also mit diesen Worten?

Metaphern umgeben uns überall, so reichlich, dass wir gar nicht mehr über sie nachdenken. Nietzsche rechnete in seinem Essay Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne mit diesem unreflektierten Gebrauch ab:

»Was ist also Wahrheit? Ein bewegliches Heer von Metaphern, Metonymien, Anthropomorphismen, kurz eine Summe von menschlichen Relationen, die, poetisch und rhetorisch gesteigert, übertragen, geschmückt wurden und die nach langem Gebrauch einem Volke fest, kanonisch und verbindlich dünken: Die Wahrheiten sind Illusionen, von denen man vergessen hat, daß sie welche sind, Metaphern, die abgenutzt und sinnlich kraftlos geworden sind, Münzen, die ihr Bild verloren haben und nun als Metall, nicht mehr als Münzen, in Betracht kommen.«

Wir wissen immer noch nicht, woher der Trieb zur Wahrheit stammt: Denn bis jetzt haben wir nur von der Verpflichtung gehört, die die Gesellschaft, um zu existieren, stellt: wahrhaft zu sein, das heißt, die usuellen Metaphern zu brauchen, also moralisch ausgedrückt: von der Verpflichtung, nach einer festen Konvention zu lügen, herdenweise in einem für alle verbindlichen Stile zu lügen.

Nietzsches Position ist extrem. Die meisten von uns haben eine pragmatischere Sicht auf Worte und deren Bezug zu der Wirklichkeit, die uns umgibt. Die Bezeichnung eines Tisches als Vierfüßer etwa ist eine Metapher aus dem Tierreich, die inzwischen verwässert ist und gar nicht mehr auffällt. Wir reservieren den Begriff Metapher für eine enger umrissene Klasse von Anwendungen, die beinhaltet, dass die Bedeutung eines Wortes auf irgendeine Weise erweitert wird. Tranströmers Schiff ist etwas, das aus seinem vertrauten Element herausgerissen wurde und ohnmächtig der Dinge harrt. Die Bäume des Waldes sind in Masten verwandelt worden, die im abgetakelten Zustand jedoch nicht mehr ihren Dienst versehen können. Später ruft das Gedicht einen Sommer ins Gedächtnis. Man kann diese Verse, wenn man will, einfach als Naturlyrik lesen, die den Lauf der Jahreszeiten in einen größeren kosmischen Zusammenhang stellt. Aber das Land Schweden, das hier mit einem Schiff verglichen wird, ist nicht nur Natur, sondern trägt an einer Geschichte; unter Deck befinden sich die Toten, die uns auf einer niemals endenden Reise begleiten – auf einer »Wanderung, die kein Jagen, sondern Geborgenheit ist«.

Was eine Metapher ist, lässt sich ungefähr so beschreiben: ein Wort für ein konkretes Phänomen, ein semantischer Kern, an dem Assoziationen mehr oder minder abstrakter Art haften. Das Schiff können wir als unser Inneres betrachten, wir verbinden es mit Größe, Bewegung, Meer und Freiheit. Ist es an Land gezogen worden, steht es da mit einer Reihe von Stützen, um im Gleichgewicht zu bleiben, herausgerissen aus seinem natürlichen Element, bewegungsunfähig, zur Passivität verurteilt. Aber die Metapher lebt nicht nur von der Spannung zwischen der buchstäblichen Bedeutung und dem Netz von Assoziationen, das sie umgibt. Der Sinngehalt wird auch von der Umgebung des Vergleichs beeinflusst: Das Gedicht hätte eine andere Aussage, würde dort statt Schweden etwa Sunne stehen (eine Gemeinde in der Provinz Värmland und der Geburtsort Selma Lagerlöfs, d.Ü.) oder die Sowjetunion.

Was Metaphern im künstlerischen Schaffensprozess attraktiv macht, sind Konkretion und Verdichtung. Unser Denken wird vom Konkreten angezogen, und ein Bild ist ein viel stärkeres Ausdrucksmittel als ein abstrakter Begriff oder die Beschreibung eines Gefühls. Dass die Metapher es außerdem erlaubt, mit einem einzigen oder wenigen Worten einen ganzen Haufen Assoziationen hervorzurufen, macht sie als Werkzeug noch praktischer. Aber alles hat seine Risiken. Während der semantische Kern eines Wortes und die nächstliegenden Assoziationen von allen verstanden werden, die dieselbe Sprache sprechen, können etliche weitere Assoziationen privat sein und im Kontext der Kommunikation weniger gut funktionieren. Die Metapher ist reich an Deutungsmöglichkeiten, aber für den, der nach Präzision im Ausdruck strebt, kann die Vieldeutigkeit zum Problem werden.

Ein anderes Risiko ist das, was Nietzsche im obigen Zitat so markig verkündet: dass eine Inflation der Metaphern eintritt, dass sie verwässert werden und damit ihre Kraft verlieren. Vielleicht ist das der Grund, warum jüngere Lyriker sich mit dem Gebrauch von Metaphern oft zurückhalten und nach anderen Formen der Mitteilung suchen.

Auch Mathematik und Physik verwenden Metaphern, wie wir gesehen haben. Der sehr kleine Anteil des Volumens, in dem sich beim Atom der größte Teil der Masse konzentriert, wurde als Kern bezeichnet. Als sich viel später zeigte, dass auch dieser überwiegend hohl ist, durften die Quarks den neuen Kern im Kern bilden, vielleicht nur als nächste Generation in der Matrjoschka, der Schachtelpuppe der Materie. Die Elektronen, die sich um den Kern bewegen, wurden zuerst als ein Planetensystem im Miniaturformat betrachtet, aber als sich herausstellte, dass diese Beschreibung in die Irre führt, sprach man stattdessen von einer Wolke. In der Mathematik gibt es einen Überfluss an suggestiven Metaphern aus dem Pflanzen- und Tierreich – Sprosse, Garben, Bäume, Wurmlöcher – und anderes, manchmal an der Grenze zur Zweideutigkeit, wie zum Beispiel das Wort oskulierend, vom lateinischen osculare (küssen), für eine Ebene, die einen gemeinsamen Punkt mit einer gekrümmten Oberfläche hat.

Dass Kunst und Naturwissenschaft immer näher zusammenrücken, muss vielleicht gar nicht erstaunen. Denn beide, die Dichter wie die Physiker, suchen nach einer Sprache, die mit alltäglichen Worten eine Realität beschreiben kann, die jenseits des Alltäglichen liegt. Deshalb sind es die Metaphern, die ihnen als gemeinsames Werkzeug dienen – kraftvoll in ihrem Vermögen, Assoziationen herzustellen, aber zugleich nicht risikofrei, weil sie die Gedanken auf Abwege führen können.

Es war ein Geniestreich Virginia Woolfs, dass sie als tragende Metapher für ihren Roman Die Wellen einen der absolut zentralen Begriffe der zeitgenössischen Mathematik und Physik wählte. Sie suchte und fand eine Struktur, und es gelang ihr, mit einem Schlag die ganze Welt als Kunstwerk zu beschreiben. So, wie sie es in ihren autobiografischen Skizzen Moments of Being (Augenblicke des Daseins) selbst formulierte:

»Davon ausgehend erreiche ich, was ich eine Philosophie nennen könnte; jedenfalls ist es eine beharrliche Idee von mir; daß sich hinter der Watte ein Muster verbirgt; daß wir – ich meine alle Menschen – damit verbunden sind; daß die ganze Welt ein Kunstwerk ist; daß wir Teil des Kunstwerks sind.«

Diese Suche nach Strukturen und Mustern, nach einer Architektur alles Existierenden, unterscheidet sich im Grunde genommen nicht von der Suche der Naturwissenschaften. Verschieden sind nur die Mittel, man könnte auch sagen: die Ästhetik. Die Naturwissenschaften streben nach einer Präzision des Ausdrucks, die von der Kunst nicht erreicht werden kann und muss. Als Woolf schrieb, dachte noch niemand an das Higgs-Teilchen, aber ihre Vision des Symmetriebruchs als Voraussetzung einer lebendigen Existenz – die Flosse, die die Wasserfläche zerteilt – gehört zu den literarischen Höhepunkten des 20.Jahrhunderts.

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