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Eiszeit 2023

Welche Politik sollten wir unter den aktuellen Bedingungen gegenüber Russland verfolgen? Eigentlich müsste über diese Frage offen gestritten werden. Stattdessen werden diejenigen, die Friedensverhandlungen mit Russland fordern, als Putin-Versteher diffamiert und ausgegrenzt. Und das, obwohl es um die wichtigste Frage überhaupt geht: das friedliche Zusammenleben. Gabriele Krone-Schmalz legt eine erweiterte und aktualisierte Neuausgabe ihres Buches „Eiszeit“ vor. Seit Kriegsbeginn 2022 stellt sich für viele nicht mehr die Frage, ob man, wie im Untertitel dieses Buchs, von einer Dämonisierung Russlands reden kann. Denn was kann verbrecherischer sein, als ein Land zu überfallen? Aber stimmt das so? Wer sich mit der jüngeren Geschichte auseinandersetzt, kommt nicht umhin, sich zu fragen, wer hier agiert und wer reagiert.

Als ich am 24. Februar 2022 in den Nachrichten hörte, dass Russland die Ukraine überfallen hat, war ich überrascht und geschockt. Damit hatte ich nicht gerechnet. Bis zum Schluss bin ich davon ausgegangen, dass der Aufbau dieser gigantischen militärischen Drohkulisse an Russlands Westgrenzen Ende 2021 und Anfang 2022 – so riskant und überzogen er auch gewesen sein mochte – einem einzigen Ziel diente, nämlich ernst zu nehmende Verhandlungen mit dem politischen Westen zu erzwingen.

Plötzlich wirkte der Begriff »Dämonisierung Russlands«, von der im Untertitel des Buches Eiszeit die Rede ist, deplatziert und zynisch. Denn was kann verbrecherischer sein, als ein Land zu überfallen? Russland wird also nicht dämonisiert, sondern ist tatsächlich der Dämon, als der es immer und immer wieder beschrieben worden war? Aber stimmt das so? Das vorliegende Buch ist 2017 erstmals erschienen und beschreibt Russlands Rückkehr auf die Weltbühne nach dem Zerfall der Sowjetunion. Brandherde wie Syrien spielen eine Rolle, die eingefrorenen Regionalkonflikte um Abchasien und Südossetien, natürlich die Chronologie des Georgienkrieges von 2008, über den nach wie vor sowohl in der Politik als auch in den Medien fälschlich behauptet wird, Russland habe ihn begonnen, und selbstverständlich das Ringen um die Ukraine. Die neue Weltordnung wird beschrieben, in der für Russland – als eine im internationalen Geschehen zu vernachlässigende ehemalige Weltmacht, die nach den Worten von US-Präsident Obama zur »Regionalmacht« abgestiegen war – kein Platz mehr zu sein schien. Demzufolge brauchte man auf Russland auch keine Rücksicht mehr zu nehmen und platzierte beispielsweise Raketenabwehrsysteme, die sich technisch relativ leicht in Angriffssysteme umbauen lassen, in Polen und Rumänien, also in unmittelbarer Nähe Russlands. Die NATO bewegte sich immer weiter auf Russlands Grenzen zu und hatte mit der für die Ukraine und Georgien in Aussicht gestellten Mitgliedschaften eine Schmerzgrenze für Russland überschritten. Der detaillierte Blick auf die sich gegenüberstehenden Militärpotenziale von NATO und Russland provoziert die Frage, wer hier wen bedroht, nicht zuletzt vor dem Hintergrund offen geäußerter Regime-Change-Fantasien westlicher Staaten. Kurz zusammengefasst: Nach dem Kalten Krieg und dem proklamierten Ende der Konfrontationspolitik in den späten Achtzigern des vorigen Jahrhunderts und dem beidseitig geäußerten Willen zur Zusammenarbeit wurden die Beziehungen zunehmend kälter und unversöhnlicher und führten zu einer Eiszeit auf nahezu allen Ebenen. Flankiert wurde diese Entwicklung von Verdachtsberichterstattung, sobald Russland involviert war. Ganz gleich, worum es sich handelte, die »Guten« und die »Bösen« standen von vornherein fest.

Die Chronologien zu den angesprochenen Themen finden Sie in diesem Buch, untermauert durch einen umfangreichen Anmerkungsapparat. Bei der Gelegenheit sei erwähnt, dass hier erstmals die Quellen der Enthüllungsplattform Wikileaks umfassend ausgewertet wurden, auf der große Mengen geheimer oder als vertraulich eingestufter Dokumente anonym veröffentlich worden sind. Die Auswertung dieser Quellen war vor allem beim Raketenabwehrsystem in Polen und Rumänien hilfreich, besonders Mit Blick Auf Absichtserklärungen und tatsächliches Vorgehen.

Wer die Gegenwart verstehen will, muss die Vergangenheit kennen, muss über Zusammenhänge und Vorgeschichten informiert sein, um sich ein Bild machen zu können. Das ist die Grundlage für die Gestaltung Der Zukunft. Deshalb hat das vorliegende Buch auch heute noch Relevanz, obwohl es 2017 erstmals erschienen ist und ich am Text keine Zeile verändert habe.

In diesen emotional aufgeheizten Zeiten empfiehlt es sich, jedes nur denkbare Missverständnis so gut es geht auszuschließen. Deshalb möchte ich an dieser Stelle betonen, dass ich mich nicht an einer Schwarz-Weiß-Malerei beteilige, auch nicht mit umgekehrtem Vorzeichen: »wir« die Bösen und »die Russen« die Guten. Allerdings erachte ich es für notwendig, die fehlenden Stücke in dem Mosaik beizusteuern, das unvollständig den Eindruck erweckt, als habe sich der politische Westen überhaupt nichts zuschulden kommen lassen. Es geht nicht ums Aufrechnen nach dem Motto: Russland hat 2014 mit Blick auf die Krim und 2022 durch den Einmarsch in die Ukraine das Völkerrecht verletzt, die USA und die NATO haben das bereits 1999 in Bezug auf den Kosovokrieg und 2003 durch den Angriff auf den Irak getan. Nichtsdestotrotz darf man diese Chronologie nicht aus dem Auge verlieren oder sogar beide Augen zudrücken, weil »wir« für dieses Verhalten angeblich gute Gründe hatten. Recht ist nicht teilbar. Moral auch nicht.

Ich möchte mit diesem Buch und mit „Russland verstehen?“ dazu beitragen, Schieflagen zu beseitigen, weiße Flecken zu füllen, Fragen zu stellen, wohl wissend, dass einige nicht beantwortet werden. Ich beanspruche keine Deutungshoheit. Ich biete Fakten und Analysen an, versuche Hintergründe auszuleuchten und Zusammenhänge herzustellen, auf deren Basis man sich realistische Gedanken über die Gestaltung der Zukunft machen kann. Es ist Sache des Lesers, seine Schlüsse aus den geschilderten Sachverhalten zu ziehen, aber die Sachverhalte selbst müssen wenigstens bekannt sein. Denn es hilft bei der Suche nach Lösungen nicht, alles, was nicht in die Mainstream-Argumentation passt, wegzulassen oder von vornherein als russische Propaganda zu diskreditieren. Vielleicht kommen manche Leser zu anderen Schlussfolgerungen als ich. Na und? Dann kann man auf dieser Basis zivilisiert und respektvoll streiten. Und sich nicht so verhalten wie Bundeskanzler Scholz im August 2023 auf einer Wahlkampfveranstaltung. Er schleuderte Menschen, die durch das Friedenssymbol der Taube deutlich machten, dass sie nicht hinter den Waffenlieferungen der Bundesrepublik stehen, ungehalten entgegen: »Und die, die hier mit Friedenstauben rumlaufen, sind deshalb vielleicht gefallene Engel, die aus der Hölle kommen, weil sie letztendlich einem Kriegstreiber das Wort reden.« Wer zu solchen Bildern greift, sollte wissen, dass »gefallene Engel« die Personifizierung des Bösen darstellen. »Respekt für Dich«, das stand auf Wahlplakaten zur Bundestagswahl 2021, die das Porträt von Olaf Scholz zeigten.

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