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Russland verstehen? 2023

Wie ist es um die politische Kultur eines Landes bestellt, in dem ein Begriff wie „Russlandversteher“ zur Stigmatisierung und Ausgrenzung taugt? Muss man nicht erst einmal etwas verstehen, bevor man es beurteilen kann? Gabriele Krone-Schmalz bietet in ihrem Buch „Russland verstehen?“, das in diesen Tagen in einer erweiterten Neuasgabe erscheint, eine Orientierungshilfe für all jene, denen das gegenwärtig in den Medien vorherrschende Russlandbild zu einseitig ist. Antirussische Vorbehalte haben in Deutschland eine lange Tradition und sind in zwei Weltkriegen verfestigt worden. Auch im Ukraine-Krieg lässt sich ihre Wirksamkeit beobachten. Tatsächlich ist aber nicht nur das Verhältnis zwischen Russland, dem Westen und der Ukraine vielschichtiger, als es in der Regel dargestellt wird, sondern auch die russische Geschichte seit dem Ende des Kalten Krieges.

Das Buch »Russland verstehen« ist 2014 entstanden und erstmals 2015 erschienen, unmittelbar nach den blutigen Ereignissen in der Ukraine. Am Text des Buches habe ich keine Zeile verändert. Ich denke, es ist authentischer, wenn ich alles so lasse, wie ich es damals geschrieben habe.

»Wie wahrscheinlich ist es, dass Putin einen Eroberungsfeldzug durch die Ukraine antritt? Zynisch formuliert: Da ist es doch sehr viel billiger eine Brücke zwischen russischem Festland und der Krim zu bauen. Die Planungen haben bereits begonnen und 2018 soll sie fertig sein.« Diese Sätze stehen auf Seite 198 und zeigen, dass ich zum damaligen Zeitpunkt nicht mit einem russischen Angriff auf die Ukraine gerechnet habe. Mehr noch, bis zum Einmarsch der russischen Truppen am 24. Februar 2022 schien mir diese Option irreal zu sein. Ja, ich habe mich mit meiner Einschätzung geirrt, dass Russland niemals die Ukraine angreifen würde, und dass der Aufbau dieser gigantischen militärischen Drohkulisse an Russlands Westgrenzen Ende 2021, Anfang 2022 lediglich dem Zweck diente, ernst zu nehmende Verhandlungen über russische Sicherheitsinteressen mit dem politischen Westen zu erzwingen. Aber die in diesem Buch aufgeführten Chronologien werden durch nachfolgende Ereignisse nicht wertlos. Im Gegenteil, sie dienen der Erklärung – nicht der Rechtfertigung – dessen, was nach Ersterscheinen passiert ist.

Nun ist der Krieg, den Russland ausgelöst hat, da. Ich verurteile diesen Krieg. Für mich ist Krieg grundsätzlich keine Lösung in unserer sogenannten zivilisierten Welt, und ich habe auch für diesen Krieg keinerlei Verständnis. Ich bin allerdings der Überzeugung, dass es im Sinne einer friedlichen Zukunft eher kontraproduktiv wäre, die Vorgeschichte auszublenden. Ich mache aus meinen Gefühlen nach dem russischen Überfall keinen Hehl: entsetzt, fassungslos, wütend. Ich verstehe, dass es einen Unterschied macht – nicht nur für Politiker, auch für Journalisten – ob man von Leid und Zerstörung nur hört, liest oder Videos sieht oder ob man mittendrin steht, die Verzweiflung spürt, Verbranntes oder Verwestes riecht, alles dreidimensional wahrnimmt und Gefühle entwickelt, die sich kaum gegen Rachegedanken wehren können, weil das alles so unerträglich ist. Das ist zutiefst menschlich und es wäre eine Katastrophe, wenn es anders wäre. Dennoch erwarte ich von Politik und Medien, dass sie sich von diesen Gefühlen nicht überwältigen lassen und der Versuchung widerstehen, politische Analyse durch Moral ersetzen zu wollen.

Es lässt sich trefflich darüber streiten, ob es gerechte Kriege gibt, mit ernst zu nehmenden Argumenten auf beiden Seiten. Ich gehöre zu denjenigen, die auch sogenannte gerechte Kriege ablehnen, weil ich sie letztlich für eine Schimäre halte, die nur dazu dient, die eigene Hilflosigkeit zu beruhigen, in die die Menschheit immer wieder kommen wird. Auch ein gerechter Krieg bringt den Menschen, um die es geht, im Zweifel keine Erlösung. Wäre es nicht besser, alles zu tun, damit es gar nicht erst zu Kriegen kommt?

Ich werde mich in meiner Arbeit auch weiterhin darauf konzentrieren, Russland zu verstehen, nicht um mich auf eine Seite zu stellen, sondern um dazu beizutragen, belastbare Grundlagen zu liefern, auf denen über tragfähige Lösungen debattiert werden kann.

Zur Vorgeschichte muss man den Fokus auch mal auf Informationen legen, die bei uns eher weniger verbreitet werden, und wenn sie denn doch mal auftauchen, von vornherein als russische Propaganda identifiziert werden. Um auch hier gleich möglichen Missverständnissen vorzubeugen: Natürlich gibt es russische Propaganda. Wie naiv wäre es, das nicht zu sehen! Aber nicht jeder russische Blickwinkel ist Propaganda. Wer das behauptet, ist vielleicht nur zu bequem, sich inhaltlich auseinanderzusetzen. Und was man auf keinen Fall vergessen darf: In Kriegszeiten hat Propaganda seit jeher auf allen Seiten Hochkonjunktur. Das ist Teil der Kriegsführung.

In den östlichen Gebieten der Ukraine herrscht seit mehr als Acht Jahren Krieg. 2014 hatten sich die Verwaltungsbezirke Donezk und Luhansk im Donbas für unabhängig erklärt, weil sie den Umsturz in Kiew nicht mitmachen wollten, der für sie nichts Gutes verhieß. Näheres dazu im vorliegenden Buch. Dass Russland diesen Vorgang später für seine Zwecke instrumentalisiert hat, will ich gar nicht bestreiten, aber der Ausgangspunkt war ein innerukrainischer. Jedenfalls versucht die ukrainische Regierung seitdem, diese Gebiete mit militärischer Gewalt zurückzuerobern. Ukrainische Streitkräfte und Milizen, die der russischen Wagner-Truppe in puncto Brutalität in nichts nachstehen, führen seit über acht Jahren Krieg dort. Kiew nennt das allerdings auch nicht Krieg, sondern »Anti-Terror-Operation«.

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