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Die Fußball­geschichte ist eine Geschichte von Klassenkämpfen

In der Anfangszeit des Fußballs spielten bürgerliche und proletarische Vereine gegeneinander um Meistertitel. Heute ist er kommerzielles Spektakel einerseits, populärer Straßensport andererseits. Welche Seite wird gewinnen, fragt Jonas Wollenhaupt, mit Klaus Dieter-Stork Autor des Buches „Links kickt besser“.

Albert Camus sagte einmal, dass er alles, was er wusste, vom Fußball gelernt habe. Leider vernachlässigen heute die meisten Linken das weite Feld des Fußballs. Es ist an der Zeit zu begreifen, dass der Kampf um Das Spiel auch ein Kampf in der Lebenswirklichkeit von Millionen Fans und Aktiven ist. Fußball hat einen Gebrauchswert für die Menschen und Linke sollten Teil dieser Bewegung werden.

Ja, Fußball ist kommerziell, kapitalistisch, häufig rassistisch und nationalistisch. Aber er ist auch subversiv, kreativ und solidarisch. Fußball kann etwas, was der Linken kaum mehr gelingt: Er kann Hoffnung machen. Selbst wenn der kleine Rot-Weiss Essen gegen den übermächtigen FC Bayern München spielt, gehen die Essener Fans ins Stadion – denn es gibt Tage, an denen Fußballwunder geschehen. Für diejenigen, denen im Leben alles genommen wurde, die für wenig Geld arbeiten und nicht wissen, wie sie ihre kaputte Waschmaschine ersetzen sollen, gibt es immer noch ihren Verein und die Hoffnung, eines Tages wieder auf der anderen Seite des Lebens zu stehen. Für das gedemütigte Subjekt kann Fußball ein kleines Stück Selbstermächtigung in einer Welt voller Niederlagen sein.

Natürlich kann man immer auch das Gegenteil betonen, so wie es die anarchosyndikalistische Gewerkschaft Freie Arbeiter-Union (FAU) tat, als sie 1921 forderte, »England zu bestrafen«, jedoch »nicht aus nationalen Gründen, sondern weil sie den Fußball erfunden haben«. Sie betrachtete das Spiel als eine Ablenkung vom revolutionären Kampf der Arbeiterinnen und Arbeiter.

Beide Narrative finden sich in der Geschichte des populärsten Sports der Welt, und beide sind richtig, wie es auch der kommunistische Filmemacher Pier Paolo Pasolini ausdrückt: »Dass der Sport […] als ›Opium fürs Volk‹ gilt, ist allgemein bekannt. Warum sollte das ständig wiederholt werden, wenn es doch keine Alternative gibt? Andererseits – dieses Opium hat auch eine therapeutische Wirkung […] Die zwei Stunden Mitfiebern (Aggressivität und Verbrüderung) im Stadion sind befreiend.«

Es ist einfach, angesichts von Football Leaks, der WM in Katar oder den absurd hohen Gehältern den Fußballzirkus zu kritisieren. Man kann aber auch die linke Geschichte dieses Sports erzählen, die sich unter dem grünen Kunstrasen verbirgt.

Rechte und linke Flügelspieler

Die Geschichte der Klassenkämpfe spielt sich manchmal auf der großen Bühne der Weltgeschichte ab, manchmal aber auch im Kleinen. Schon seit der Antike hat der Fußball Liebhaber und Verächter. Platon etwa lobte die sphairomachia (Ballschlacht) als militärische Vorübung. Mal kritisieren die Intellektuellen den Fußball, mal verbieten ihn die Herrschenden. Dann entdecken sie ihn wieder und instrumentalisieren ihn für ihre Zwecke.

Auch die Entwicklung des Fußballs, wie wir ihn heute kennen – vom Raufspiel in den Dörfern (an dem auch Frauen teilnahmen) zum gepflegten Sport in den Eliteschulen – vollzog sich als Integration eines wilden Spiels. Die wohlhabende Jugend rebellierte Mitte des 19. Jahrhunderts gegen die spießigen Erwachsenen und brachte es aus den Dörfern in die Großstädte Englands. Das gefiel den Herrschenden nicht. Weil jedoch die Fußballverbote nicht recht funktionierten, wurde das Subversive Spiel stattdessen integriert. Die Liste der Vorteile für die aristokratische und ökonomische Elite war lang: Die verweichlichte Jugend wurde abgehärtet, der Geist diszipliniert, der Körper gesund, das Militär bekam gewaltbereite Rekruten und – was im viktorianischen Zeitalter wichtig war – die Jugend wurde von der Masturbation abgehalten.

Aber nicht nur die Elite kickte, sondern auch die Kinder auf der Straße. Der Straßenfußball wurde zum Refugium des neuen Industrieproletariats. Das wilde Kicken endete nicht selten in Schlägereien mit der Obrigkeit. Davon zeugen Verbote, Strafen und Anzeigen. Doch das Proletariat ließ sich das Spiel nicht mehr nehmen. Neben den bürgerlichen Vereinen entstanden immer mehr Arbeitervereine. 1863 wurde der Fußball endgültig institutionalisiert: In der Freemason’s Tavern in der Londoner Great Queen Street traf sich alles, was in der neuen Sportart Rang und Namen hatte, um die Football Association (FA) zu gründen.

Eine Viertelstunde Fußweg entfernt wohnte damals ein gewisser Karl Marx, der dort das eine oder andere politische Treffen gehabt haben muss. Ob er von dem neuen Sport gehört hat, ist nicht überliefert. Aber der Fußball, wie wir ihn heute kennen, nahm zu dieser Zeit Fahrt auf. Die bürgerlichen Vereine dominierten zunächst. Doch zwanzig Jahre nach der Gründung der FA geschah das Unglaubliche: Das Proletariat siegte – zumindest im Fußball. Die Arbeitermannschaft Blackburn Olympic gewann 1883 den FA Cup. Vor 8.000 Schaulustigen überwanden sie den Vorjahressieger Old Etonians nach Verlängerung mit 2:1. Die Arbeiterkicker schlugen die Alumni der Eton Public School – welch süße Genugtuung für die Arbeiterklasse und welch bittere Niederlage für die Bourgeoisie. Marx erlebte diesen Triumph der Arbeiterklasse nicht mehr: Er war zwei Wochen zuvor gestorben.

Nicht nur der Sieg an sich war spektakulär, sondern auch die Art und Weise, wie er errungen wurde. Die Mannschaften der Arbeiterklasse waren körperlich unterlegen. Mangelernährung und Krankheiten waren ihre täglichen Begleiter. Sogar ihre Körpergröße war geringer. Um diese Unterlegenheit auszugleichen, gingen viele Arbeitervereine dazu über, das Passspiel zu kultivieren, anstatt wie die Etonians zu dribbeln und kick and rush zu spielen. Damit machten die Arbeiter das Kombinationsspiel zum Standard. Bis dahin hatten die Public-School-Mannschaften weitgehend auf das klassische Spielmuster gesetzt, das wir heute noch vom American Football kennen: den Ball kicken und hinterherlaufen.

Während die Gentlemen des bürgerlichen Fußballs ganz dem Amateurethos verpflichtet waren, wurden die Arbeiter bald fürs Fußballspielen bezahlt. Und das musste auch sein, denn neben der harten körperlichen Arbeit in den Fabriken hätten sie nie konkurrenzfähig spielen können. Blackburn Olympic, der Arbeiterverein aus dem Norden Englands, war somit der erste Profiverein im Fußball. 1885 gab die FA den Amateurgedanken ganz auf.

Dieses Wechselspiel von Aneignung und Enteignung des Fußballs wiederholt sich auch beim Frauenfußball oder beim Arbeiterfußball. Der Fußball ist ein Kampfplatz der Gegensätze von Kommerzialisierung und Lebensfreude, zwischen einem Sport für alle und einem Sport für die Elite, zwischen rechten und linken Ideen auf dem Fußballfeld.

Der Sport als Manifest

Das Stadion ist der einzige Ort, wo man noch seine Meinung sagen kann, meinte der geniale Komponist und größte Fußballfan der Sowjetunion, Dmitri Schostakowitsch. Und diese Haltung findet man immer wieder, wenn man Fußball und Proteste im Zusammenhang betrachtet – vom Arabischen Frühling über die Gezi-Proteste bis hin zu den großen Streiks in Südamerika: Überall mischen Fußballfans mit.

Die Ultras sind vielerorts die letzte verbliebene soziale Bewegung. Die Leidenschaft, wenn Zehntausende Fans gemeinsam singen, weinen und feiern, schreien und sich in den Armen liegen, überträgt sich auf die Menschen außerhalb des Stadions. Nun sind die Ultras nicht immer links und tragen auch selbst zur kritisierten Eventisierung des Spiels bei, aber sie sind eine realpolitische Bewegung, mit der die Linke den Schulterschluss suchen könnte.

Auch melden sich Fußball-Persönlichkeiten immer wieder als politische Akteure zu Wort: Die US-Nationalspielerin Megan Rapinoe legte sich öffentlich mit Trump an. Diego Maradona war zwar mehr Bauchlinker als gefestigter Theoretiker, spielte aber immer für die Unterdrückten und ließ ganz Neapel den Stolz der siegreichen Arbeiterklasse spüren. Die Liverpooler Trainer-Legende William »Bill« Shankly sagte einmal: »Im Sozialismus, an den ich glaube, arbeitet jeder für den anderen und alle bekommen einen Teil des Gewinns. So sehe ich Fußball, so sehe ich das Leben.« Der argentinische Nationaltrainer César Luis Menotti veröffentlichte das linke Fußballmanifest »Fußball aus der Tiefe des Volkes«. Und auch frühe Fußballpioniere wie der Kicker-Gründer und friedenspolitische Kosmopolit Walther Bensemann oder die Frauenrechtlerin und Spielerin Nettie Honeyball gehören neben vielen anderen in diese Reihe.

Doch nicht nur einzelne Akteure der Fußballgeschichte verbanden den Sport mit Emanzipation, auch das Spiel selbst weist über das Bestehende hinaus. Das schöne Spiel des holländischen Fußball total (einer besonderen Taktik, bei der alle alles spielen, von Verteidigung bis Angriff) das faszinierende Dribbling eines Messi oder Maradona, das Außenristtor mit einer unmöglichem Flugbahn von Roberto Carlos, aber auch der Catenaccio und die chirurgische Eleganz in der Abwehr eines Paolo Maldini erzeugen das, was für Theodor W. Adorno die Begegnung mit großer Kunst ausmacht: Gänsehaut. Sie verrät uns etwas über den Widerspruch von gesellschaftlichen Normen und unterdrückten Bedürfnissen. Sie weckt in uns ein Gefühl, dass es mehr geben könnte.

Nicht umsonst hat Toni Negri den italienischen Abwehrriegel mit den Barrikaden der Fabrikarbeiter verglichen. Der Fußball kann für viele auf der symbolischen Ebene viel mehr bedeuten, als es die übrige Lebenswelt zwischen Job und Alltag kann. Diese Gänsehaut wird auch immer wieder falsch versöhnt mit den Übeln von Nationalismus, Rassismus, Antisemitismus und Sexismus, die jede und jeder aus dem Stadion kennt. Genau deshalb ist es aber fatal, diesen Ort, an dem viele Menschen Gänsehaut verspüren, den Rechten zu überlassen.

Einer der bekanntesten Fußballer, der sich als Künstler verstand, war Johann Cruyff. Nach seinem Karriereende sagte er: »Ich gehe nicht durchs Leben und verfluche, dass ich nie Weltmeister geworden bin. Ich habe in einer fantastischen Mannschaft gespielt, die Millionen von Zuschauern Freude bereitet hat. Darum geht es im Fußball […]. Aber die größte Belohnung war für mich immer, wenn die Leute gesagt haben, dass wir den besten Fußball der Welt spielen.« Damit hatte Cruyff nonchalant etwas Entscheidendes ausgedrückt: Der gute, wahre und schöne Fußball ist links, ist das, was Lebensfreude ausmacht. Der Fußball, den die Kapitalisten guten Fußball nennen, ist vielleicht der erfolgreichere, aber nicht der bessere.

Und so werden täglich Millionen von Menschen zu Künstlerinnen und Künstlern. Auf den Fußballplätzen, auf den Straßen und in den wilden Ligen der Welt. Kaum irgendwo werden Sprache, Religion und Identität so bedeutungslos wie beim gemeinsamen Kicken.

Widerstand auf dem Rasen

Es gibt eine verdrängte linke Fußballgeschichte voller Widerstand und Lebensfreude. Eine davon ist die des brasilianischen Nationalspielers Sócrates, der Fußballkünstler, Aktivist und Arzt war. Er verkörperte die linken Aspekte des Spiels. Er wollte immer den schönen Fußball spielen, er war begeistert dabei, als sein Verein Corinthians Sao Paulo radikaldemokratisch umstrukturiert wurde: Jeder hatte eine Stimme, bis hin zum Hausmeister. Er protestierte gegen die Diktatur in Brasilien, war wohl der erste Spieler, der auf eine WM verzichtete, um Arzt zu werden, und auch der erste, der dann als Arzt zur nächsten WM reiste. Als er nach seinem Wechsel zum AC Florenz gefragt wurde, welchen Spieler er mehr respektiere, Mazzola oder Rivera, antwortete er: »Ich kenne sie nicht. Ich bin hier, um Gramsci im Original zu lesen und die Geschichte der Arbeiterbewegung zu studieren.«

Es gibt aber auch die Geschichte von Carlos Kaiser, der von 1979 bis 1992 bei verschiedenen Profivereinen unter Vertrag stand, aber nie zum Einsatz kam. Der moderne Schelm aus den brasilianischen Slums hatte es geschafft. Wie in den Schelmenromanen des Mittelalters gelang es Kaiser, sich im großen glitzernden Fußballzirkus Südamerikas zu behaupten. Er war kein guter Fußballer, aber er konnte überzeugen, er war gewitzt, er konnte täuschen, ohne anderen zu schaden, und er fand die Abkürzungen, die Menschen, die am Existenzminimum leben, so häufig nehmen müssen.

Kaiser überspielte VHS-Kassetten so oft, dass niemand mehr die Spieler erkennen konnte, nur noch die Tore. Dann behauptete er, er sei der in dem Video zu sehen und verschickte die Tapes an Vereine in ganz Südamerika. Am Ende hat es immer für einen neuen Vertrag für ein bis zwei Jahre gereicht. Meistens war er »verletzt« oder konnte aus anderen Gründen nicht spielen. Die Mitspieler liebten ihn und die Vereinsbosse wollten nicht zugeben, dass sie einen Fake-Fußballer verpflichtet hatten. Carlos Kaiser erfüllte seinen Vertrag und zog anschließend zum nächsten Verein. Ungewollt hielt er dem großen Fußballgeschäft den Spiegel vor.

Frauen waren seit den Anfängen des Sports in Schottland und England dabei und wurden auch von Anfang an von der Kirche und dem Staat diskriminiert. Als Ende des 19. Jahrhunderts der institutionelle Fußball aufkam, Frauen für ihre Rechte kämpften und auch Fußball spielen wollten, gründeten sie ihre eigenen Mannschaften – oft unter Pseudonymen, um Hasstiraden zu vermeiden. Vor allem aus der Mittelschicht und den ärmeren Schichten kamen die mutigen Frauen, die plötzlich ihr Recht auf Fußball einforderten. Zu ihnen gehörte die Torfrau Helen Matthew. Sie nannte sich selbst Mrs. Graham und ihr Team die Mrs. Graham’s XI.

Das erste öffentliche Spiel von Mrs. Graham und ihren Graham’s XI wurde im Mai 1881 ausgetragen. Es fand in Edinburgh statt und wurde groß als Länderspiel Schottland gegen England angekündigt, obwohl es eher ein internes Spiel der Graham’s XI war. Schottland gewann vor eintausend Zuschauerinnen und Zuschauern mit 3:0, das Spiel war eine kleine Weltsensation. Doch bei den nächsten Spielen kam es zu Ausschreitungen und Helen Matthew ging ins Fußballexil nach England.

Der frühe Frauenfußball stieß bei den Männern nur auf Ablehnung, bestenfalls auf Belustigung und wurde als exotisch oder skurril empfunden. Bei den ersten Spielen mussten die Frauen noch Schuhe mit hohen Absätzen und enge Korsetts tragen. Es war schwer, gegen die männliche Dominanz anzukommen. Allmählich radikalisierte sich die Frauenrechtsbewegung. Der bewaffnete Arm der Suffragettenbewegung, die Women’s Social and Political Union (WSPU), setzte auch auf Fußball. Einerseits setzten sie sich für das Fußballspielen von Frauen ein und spielten selbst Fußball, andererseits verübten sie Anschläge auf Sportstätten, die von Männern besetzt waren. Im Jahr 1913 griffen die militanten Suffragetten die Haupttribüne des Manor Ground Plumstead an, wo Woolwich Arsenal, der Vorgängerverein von Arsenal London, beheimatet war. Weitere Anschläge ereigneten sich in den Stadien von Preston North End und Blackburn Rovers. Fußball war ein Politikum, und Sprengstoff war für die WSPU kein Problem.

Während die Männer im Ersten Weltkrieg an der Front waren, wurde der Frauenfußball der Arbeiterinnen in den Munitionsfabriken immer populärer. Vorreiterinnen waren die Frauen des Dick, Kerr Ladies FC, die 1920 in Liverpool vor sensationellen 53.000 Zuschauerinnen und Zuschauern spielten. Nach dem Ersten Weltkrieg war Frauenfußball in England populärer als Männerfußball. Das konnten die Männer nicht ertragen. So wurde der Frauenfußball auf offiziellen Plätzen verboten, erst 1971 durften Frauen wieder kicken. Die Scheinargumente der Männer reichten von vermeintlich eingeschränkter Gebärfähigkeit durch Fußball über moralische und biologische bis hin zu ästhetischen Gründen. In Deutschland verlief die Geschichte zeitversetzt ähnlich.

Es gab auch den eigenständigen Arbeiterfußball. Anfang des 20. Jahrhunderts kämpften proletarische Fußballer für einen eigenen Fußball mit eigenen Ligen, Werten und Regeln. Sie gründeten ihre Vereine oder spielten in den Arbeiterturnverein, wie zum Beispiel beim Turnverein Fichte in Berlin. Der Fußball war damals noch neu in der Stadt, aber es dauerte nicht lange, bis er sich im nach dem Philosophen Johann Gottlieb Fichte benannten Verein durchsetzte. Wenige Jahre später war der TV Fichte der größte Arbeitersportverein Deutschlands. Die Linke verstand Sport damals noch als Beitrag zum Kampf der Arbeiterklasse gegen das Kapital. Stark, athletisch, fit für den Klassenkampf – das war linke Biopolitik und gleichzeitig Fußball von unten. Gespielt wurde ein anderer Fußball, bei dem man seinen Genossen im anderen Team nicht foulte, denn auch dieser musste unter der Woche wieder malochen, um seine Familie zu ernähren.

Doch auch der Arbeitersport war nicht konfliktfrei. Wie im großen Weltgeschehen, so gab es auch in den kleinen Vereinen Spannungen zwischen Sozialdemokraten und Kommunisten. Trotzdem war der Arbeitersport sehr populär und erfolgreich und konkurrierte mit dem DFB, bis er schließlich von den Nationalsozialisten verboten wurde. Der Arbeitersport bildet einen wichtigen Teil der deutschen Fußballgeschichte und ist ein Beispiel dafür, wie Sport politisch motiviert sein kann. Er zeigt, dass er nicht nur ein Spiel ist, sondern auch ein Mittel, um für eine bessere Welt zu kämpfen.

Den Fußball neu erfinden

1992 wird die Rückpassregel eingeführt und der sogenannte moderne Fußball entsteht. Wie beim Übergang vom Stummfilm zum Tonfilm verschwinden die alten Helden und neue kommen. Ohne die Möglichkeit, das Spiel durch einen Rückpass zum Torwart zu verzögern, wird das Spiel viel athletischer. Eine ganze Generation von Fußballspielern, die gerne auch mal mit den Fans getrunken hatte, kam nicht mehr mit. Gleichzeitig ärgert sich ein gewisser Silvio Berlusconi, dass im Europapokal der Landesmeister die großen Stars und Mannschaften durch Zufall früh aus dem Wettbewerb fliegen können. Die Werbeagentur Saatchi & Saatchi wird beauftragt, einen neuen Wettbewerb zu entwickeln: die Champions League.

Es gibt nun mehr Spiele, mehr Geld und weniger Zufall. Am Ende würden sich mit hoher Wahrscheinlichkeit die reicheren Vereine durchsetzen. Hinzu kommen Videoanalysen, Big Data und Künstliche Intelligenz. Spieler und Vereine werden immer mehr zur Ware. Investoren-Liebhabereien wie Red Bull Salzburg, Leipzig, New York konkurrieren mit Staatsinvestitionen aus Katar und Saudi-Arabien.

Der moderne Fußball versucht, den Zufall weiter auszuschalten. Im Vergleich zu Handball, Basketball und anderen Sportarten fallen im Fußball nur sehr wenige Tore. Vieles hängt vom Zufall ab. Und genau das macht das Spiel für Millionen von Menschen so spannend. Es besteht immer die Hoffnung, auf der Seite der Glücklichen zu stehen. Wer heute einmal unten ist und nicht weiß, wie er die nächsten Rechnungen bezahlen soll, bleibt unten. Wer heute ins Stadion geht, kann noch hoffen. Doch dieser Zufall wird durch zunehmende Monopolisierung und ökonomische Optimierung angegriffen – und damit auch die Träume unzähliger Fans.

Aber der moderne Fußball ist nicht das Ende der Fahnenstange. Die Proteste gegen die Super League, gegen Investoren, absurde Gehälter oder teure Ticketpreise zeigen, dass sich viele Fans und Aktive mit der zunehmenden Kommerzialisierung nicht mehr abfinden wollen. Und am Ende haben diejenigen die größte Macht, die für Fußball bezahlen, ob sie im Internet auf Werbung klicken, überteuerte Streaming-Abos abschließen oder ins Stadion gehen. Wenn sie diese Macht als gemeinsame begreifen, kann sich etwas ändern. Das Fußballgeschäft ist kein Naturgesetz, es wird von Menschen gemacht und kann von Menschen verändert werden. Letztendlich werden diejenigen, die diesen Sport lieben, über ihn entscheiden.

Fußball war und ist politisch. Im Fußball wird für sehr viele Menschen greifbar, was in der Welt falsch läuft und was im Kapitalismus nicht funktioniert. Dieses Potenzial sollten linke Bewegungen nicht unterschätzen. Gleichzeitig ist Fußball nicht nur ein Abbild der herrschenden gesellschaftlichen Verhältnisse, sondern immer auch ein Möglichkeitsraum, um über sie hinauszugehen.

Der Zufall und mit ihm die Hoffnung werden nie ganz verschwinden, nicht durch KI und schon gar nicht durch Videoschiedsrichter. Die Abermillionen von Fans erleben – ob sie es so für sich einordnen oder nicht – die Reibung zwischen der kalten kapitalistischen Ordnung und dem Potenzial einer menschenfreundlichen Welt, die im Lachen, in der Kreativität, in der kindlichen Freude und Solidarität des gemeinsamen Erlebens versteckt ist, auf und neben dem Platz.

Dieser Text ist am 4. Juli bereits online auf Jacobin.de erschienen.

Der Beitrag Die Fußball­geschichte ist eine Geschichte von Klassenkämpfen erschien zuerst auf Westend Verlag GmbH.



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