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Gegen Sinnlosigkeit und Fremdbestimmtheit

Mutig, entschlossen und mit beispiellosem Einsatz kämpfte Simon Weil (1909-1943) zeit ihres Lebens für eine bessere Welt . Dabei stellte sie die leidvolle Erfahrung der Fabrikarbeiter und -arbeiterinnen in den Mittelpunkt ihres Engagements. Überraschenderweise steht Weils Vision zur Lösung der sozialen Frage in engem Verhältnis zu Gott. Dabei geht es ihr aber keinesfalls um ein Aufgeben des Weltlichen im Glauben. Die Ordensschwester Britta Müller-Schauenburg beschreibt Weils Haltung in ihrem Vorwort vielmehr als einen „geistlichen Umgang“ mit „geistlosen Routinen“: Fremdbestimmtheit und Sinnlosigkeitsempfindungen, die sich wie die soziale Ungerechtigkeit bis heute weiter ausbreiten. Weils Texte, die jetzt endlich auf Deutsch vorliegen, legen davon ein eindrucksvolles Zeugnis ab. Ein Auszug.

Den Arbeitern eine Vorstellung zukünftiger Arbeit in Aussicht zu stellen, ist ein Problem, das sich in jedem besonderen Fall neu stellt. Im Allgemeinen setzt die Lösung dieses Problems neben einer gewissen Kenntnis des Gesamtbetriebs der Fabrik, wie sie jedem Arbeiter zugestanden wird, auch eine Art der Organisation in der Fabrik voraus, die eine gewisse Autonomie der einzelnen Werkstätten gegenüber dem gesamten Betrieb sowie jedes Arbeiters gegenüber seiner Werkstatt gewährleistet. Im Hinblick auf die nahe Zukunft sollte jeder Arbeiter so weit möglich wissen, was er in etwa während der nächsten acht oder fünfzehn Tage zu tun haben wird, und sollte sogar eine gewisse Wahl haben, in welcher Reihenfolge er die verschiedenen Aufgaben erledigen will. Im Hinblick auf die weiter entfernte Zukunft sollte er in der Lage sein, selbst einige Weichen zu stellen, nicht so weitreichend und präzise wie der Vorgesetzte und der Direktor zwar, aber doch in ähnlicher Art und Weise. So wird er, ohne Dass seine tatsächlichen Rechte auch nur im Geringsten erweitert wurden, jenes Gefühl der Eigenständigkeit empfinden, nach dem das menschliche Herz dürstet und das, ohne den Schmerz zu verringern, doch die Abscheu aufhebt.

Solche Reformen sind schwierig, und einige Umstände der gegenwärtigen Zeit erhöhen noch ihre Schwierigkeit. Dagegen war das Unglück wesentlich, um darauf aufmerksam zu machen, dass etwas geändert Werden muss. Die größten Hindernisse liegen in den Seelen. Angst und Verachtung zu überwinden ist schwierig. Die Arbeiter, oder zumindest viele unter ihnen, haben sich nach tausend Verletzungen eine fast unheilbare Bitterkeit angeeignet, die dafür sorgt, dass sie beginnen, alles, was von oben kommt, als Falle zu betrachten, vor allem, wenn es von Arbeitgebern kommt. Dieses krankhafte Misstrauen, das jedwede Anstrengung zu einer Verbesserung unfruchtbar machen würde, kann nicht ohne Geduld und Beharrlichkeit überwunden werden. Viele Arbeitgeber fürchten, dass ein Reformversuch, so harmlos er auch sein mag, den Rädelsführern neuen Auftrieb verschafft, denen sie ausnahmslos alles Übel im Sozialen zuschreiben und die sie sich als eine Art mythologische Monstren vorstellen. Es fällt ihnen auch schwer, zuzugeben, dass es in der Seele der Arbeiter gewisse höhere Fähigkeiten gibt, die sich an der sozialen Ordnung zeigen würden, wenn man ihnen passende Anreize verschaffen würde. Und selbst wenn sie von der Nützlichkeit der angeführten Reformen überzeugt wären, so wären sie durch eine übertriebene Sorge um die Betriebsgeheimnisse davon abgehalten; immerhin hätte die Erfahrung sie dann gelehrt, dass Verbitterung und dumpfe, in die Herzen der Arbeiter getriebene Feindseligkeit viel größere Gefahren für sie birgt als die Neugier der Konkurrenten. Im Übrigen fallen die nötigen Anstrengungen nicht nur den Arbeitgebern und den Arbeitern zu, sondern der ganzen Gesellschaft; insbesondere die Schule sollte auf eine vollständig neue Art konzipiert werden, um Menschen auszubilden, die dazu fähig sind, die Gesamtheit der Arbeit zu verstehen, an der sie beteiligt sind. Nicht dass das Niveau der theoretischen Studien gesenkt werden sollte, eher im Gegenteil: Es sollte viel mehr dafür getan werden, um das Erwachen der Intelligenz zu ermöglichen; und zugleich sollte der Unterricht viel konkreter werden.

Das Übel, das es zu heilen gilt, betrifft die gesamte Gesellschaft. Keine Gesellschaft kann stabil bestehen, wenn eine ganze Kategorie von Beschäftigten jeden Tag und den ganzen Tag über Mit Abscheu Arbeitet. Diese Abscheu bei der Arbeit beeinträchtigt die ganze Lebensauffassung, das ganze Leben der Arbeiter. Die erniedrigende Demütigung, die jede ihrer Anstrengungen begleitet, sucht Ausgleich in einer Art Arbeiterimperialismus, der durch eine gewisse aus dem Marxismus stammende Propaganda unterhalten wird. Wenn ein Mensch, der Bolzen herstellt, bei der Herstellung dieser Bolzen einen legitimen und begrenzten Stolz empfindet, würde er von sich aus kaum künstlich einen grenzenlosen Hochmut in sich heraufbeschwören durch den Gedanken, dass seine Klasse dazu bestimmt ist, Geschichte zu machen und über alles zu herrschen. Genauso verhält es sich mit der privaten Lebensauffassung und besonders der Auffassung von Familie und Beziehung zwischen den Geschlechtern; die dumpfe Erschöpfung der Fabrikarbeit hinterlässt eine Leere, die durch schnelle und grobe Genüsse gefüllt werden will und anders auch nicht gefüllt werden kann, und die daraus resultierende Korruption ist für alle Klassen der Gesellschaft ansteckend. Die Korrelation ist auf den ersten Blick nicht offensichtlich, aber dennoch besteht sie: Die Familie wird im Volk nicht wirklich geachtet, solange ein Teil des Volkes nur mit Abscheu arbeitet.

Aus den Fabriken ist viel Schlechtes gekommen, und dieses Schlechte muss in den Fabriken korrigiert werden. Das ist schwierig, doch vielleicht nicht unmöglich. Zuallererst müsste es Spezialisten, Ingenieuren und anderen hinreichend am Herzen liegen, nicht nur Gegenstände zu bauen, sondern ebenso, keine Menschen zu zerstören. Noch nicht einmal, sie gefügig oder gar glücklich zu machen, sondern einfach, keinen von ihnen zu zwingen, sich selbst zu erniedrigen.

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