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Organspende – eine Sache der Moral

In Deutschland stehen derzeit rund 8.500 Menschen auf der Warteliste für ein Spenderorgan. Dem gegenüber stehen 869 Organspenden im Jahr 2022. Muss es anhand dieses Missverhältnisses nicht als Pflicht empfunden werden, die eigenen Organe zur Spende freizugeben? Gleichzeitig stellt sich die Frage, ob der Moment, in dem die Organe entnommen werden müssen, tatsächlich mit dem Ende des Lebens zusammenfällt. Ist die Organspende Pflicht oder Verrat am Menschsein? Dieter Birnbacher ist davon überzeugt, dass das Kriterium des Hirntodes uns nicht nur dazu verhilft, sondern gar auffordern sollte, der moralischen Pflicht der Lebensrettung nachzukommen. Kommende Woche wird Sigrid Graumann antworten, die daran entschiedene Zweifel hat.

Die erklärte Bereitschaft, die transplantierbaren Organe des eigenen Körpers für eine postmortale Organspende zur Verfügung zu stellen, ist nicht nur eine löbliche und wünschenswerte Handlung, sondern nicht weniger als eine moralische Verpflichtung. Sie sollte meines Erachtens deshalb sowohl in die moralische Erziehung der nachwachsenden Generation aufgenommen als auch gesellschaftlich nach Kräften unterstützt werden.

Ich bin mir im Klaren darüber, dass diese These auf mehreren Seiten auf Widerstand stoßen wird. Besonders mit zwei Formen von Kritik ist zu rechnen: Die erste Form ist vor allem unter Vertretern öffentlicher Institutionen wie den christlichen Kirchen, den politischen Parteien und einigen Ärzteorganisationen verbreitet, die es als ihre Aufgabe sehen, mithilfe der Medien auf die gesellschaftlichen Moralvorstellungen einzuwirken. In dieser Form besagt die Kritik, dass die Bereitschaft Zur Organspende zwar als moralisch verdienstvoll gelten und privat und öffentlich ermutigt werden sollte, dass es aber verfehlt sei, sie geradewegs zu Einer Moralischen Pflicht zu machen. Die Organspende sollte – ebenso wie die Blutspende – als ein löblicher Akt mitmenschlicher Solidarität gelten, der Anerkennung verdient und für den durchaus auch öffentlich geworben werden kann. Ich aber möchte dafür eintreten, einen Schritt weiterzugehen, indem diese verdienstvolle Handlungsweise in den Rang einer moralischen Pflicht erhoben wird und sie damit eindeutigeren und fragloser akzeptierten Pflichten gleichzustellen, etwa der Pflicht für die Sorge für die eigenen Kinder. Im gegenwärtigen Verständnis müsste man aber – in der Terminologie der philosophischen Ethik gesprochen – in Bezug auf die Bereitschaft zur Organspende von einer »überpflichtmäßigen« Handlungsweise sprechen, einer Handlungsweise, die zwar durch und durch moralisch gut ist, die jedoch nicht eingefordert werden kann oder sollte. Das traditionelle Modell für ein »überpflichtmäßiges« Handeln sind Helden und Heilige. Helden und Heilige gelten als solche, weil sie sich ungewöhnliche Verdienste der einen oder anderen Art erworben haben. Sie dienen als Modelle von Selbstlosigkeit und Tatkraft. Eine Verpflichtung, ihnen nachzuleben, liefe jedoch auf eine Überforderung, auf eine »Hypermoral« hinaus.

Dass wir zwischen moralisch »verdienstlichem« Handeln und Handeln, zu dem wir moralisch verpflichtet sind, unterscheiden müssen, ist mehr oder weniger offenkundig. Es ist verdienstvoll, einen substanziellen Teil seines Einkommens für karitative Zwecke zu spenden, aber es ist zweifelhaft, ob dies im Namen der Moral verlangt werden kann. Unterscheiden lassen sich die beiden moralischen Beurteilungsformen etwa anhand der Reaktionen, die wir bei ihrer Nicht-Ausführung für angemessen halten. Bei jemandem, der eine verpflichtende Handlung nicht ausführt, obwohl er sie ausführen könnte, halten wir einen (je nachdem milderen oder strengeren) Vorwurf für angebracht. Anders bei jemandem, der eine überpflichtmäßige Handlung, die er ausführen könnte, nicht ausführt. Dass jemand lediglich einen kleineren Teil seines Einkommens für karitative Zwecke spendet, obwohl er mehr spenden könnte, ohne sich Entbehrungen aufzuladen, ist in diesem Sinne kein Anlass für einen moralischen Vorwurf. Umstritten ist jedoch, welche Handlungsweise, in die eine und welche in die andere Kategorie fallen. Wie umstritten Thesen sein können, die ein üblicherweise verdienstvolles Handeln zu einem gesollten erklären, zeigte sich in den 1970er Jahren, als der australische Philosoph Peter Singer in einem fulminanten Artikel forderte, dass die Bewohner der reichen Industrieländer moralisch verpflichtet seien, ein Zehntel ihres Einkommens den Entwicklungsländern zukommen zu lassen. Diese Forderung wurde weithin als Überforderung zurückgewiesen. Die Bereitschaft zur Organspende sollte meiner Auffassung nach in die erste, verpflichtende Kategorie gehören.

Eine zweite Form der Kritik geht davon aus, dass das Postulat einer moralischen Pflicht zur Organspende auf nichts weniger als auf eine Kollektivierung des eigenen Körpers hinausläuft. Eine Verpflichtung des Individuums, seine Organe für die Transplantation zur Verfügung zu stellen, bedeute nicht weniger, als der Gesellschaft, dem Medizinsystem oder gar dem Staat das Recht zuzuerkennen, sich der Organe des Einzelnen zu bemächtigen. Ein solches Recht komme jedoch einer Teilenteignung des eigenen Körpers gleich. Der eigene Körper müsse aber als der Inbegriff von Privateigentum gelten, auf den andere und insbesondere der Staat kein Recht hätten. Schließlich gibt es kein anderes Besitztum, zu dem wir in einem vergleichbar intimen Verhältnis stehen. Ein derartiges Recht muss in der Tat als klarer Fall von unzulässiger Übergriffigkeit gelten, eine moralische Verpflichtung beinhaltet jedoch aus meiner Sicht kein Recht eines anderen, sich das, was der Verpflichtete zu geben verpflichtet ist, unabhängig von dessen Zustimmung zu nehmen. Das Verhältnis zwischen Pflichten und Rechten ist vielschichtiger, als die zweite Kritik unterstellt. Nicht jede Pflicht begründet auf der Gegenseite auch ein entsprechendes Recht.

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