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Ein Leben im Kampf für die Rechte der kurdischen Bevölkerung

Hatip Dicle ist einer der prominentesten kurdischen Politiker der Türkei und kämpft seit seiner Jugend unermüdlich für die Selbstbestimmung der kurdischen Bevölkerung und gegen die diskriminierende Unterdrückung, die der türkische Staat seit über 100 Jahren gegen die Kurdinnen und Kurden ausübt. Über fünfzehn Jahre verbrachte Dicle deswegen im Gefängnis. Aber auch diese Haftstrafen hielten ihn nicht davon ab, sich für die demokratische Selbstorganisation der kurdischen Bevölkerung einzusetzen und seinen Überzeugungen treu zu bleiben. Mit der Verschlechterung des politischen Klimas in der Türkei musste er 2016 schlussendlich sogar seine Heimat verlassen und ins Exil gehen. Nun legt er mit „Ein Leben im Kampf für die Rechte der kurdischen Bevölkerung“ seine Autobiografie vor. Mittlerweile setzt er seinen Kampf von Deutschland aus fort und hat, ebenso wie seine Mitstreiterinnen und Mitstreiter, bei allen Repressalien, Anfeindungen, Diffamierungen und nicht zuletzt auch tätlichen Angriffen nie den Glauben an eine friedliche und diplomatische Auseinandersetzung verloren. Ein Auszug aus seiner Autobiografie.

Der 24. Juli 2015 markiert den Beginn der praktischen Umsetzung des »Zerschlagungsplans« gegen die kurdische Bevölkerung. Es dürfte kaum ein Zufall sein, dass dieses Kriegskonzept zum Jahrestag des Abkommens von Lausanne (24. Juli 1923) in Gang gesetzt Wurde. Waren die Kurd*innen noch in den Anfangsjahren der türkischen Republik als wichtige Bündnispartner anerkannt worden (die Verfassung von 1921 sprach der kurdischen Bevölkerung grundlegende Rechte zu), wurde nach dem Vertrag von Lausanne die kurdische Identität vollständig verleugnet. Das Ziel lautete fortan, die gesellschaftliche Vielfalt der Türkei unter dem Dach eines dogmatischen Nationalstaates zu »türkisieren«.

Der bis heute andauernde Krieg gegen die kurdische Bevölkerung folgt dieser Geisteshaltung. Parallel zu den militärischen Angriffen gegen die kurdische Freiheitsbewegung und die kurdische Bevölkerung wird Abdullah Öcalan seither erneut einer verschärften Isolation ausgesetzt. Die extreme Isolation eines Gefangenen kommt permanenter Folter gleich. Und wie zuvor richtet sich der Krieg des türkischen Staates auch direkt gegen die Zivilbevölkerung. Zu den Kriegsverbrechen der Türkei gehört die Ermordung von 180 Zivilist*innen in der nordkurdischen Stadt Cizîr. Diese Menschen hatten nach militärischen Angriffen Schutz in den Kellern von Wohnhäusern gesucht. Viele von ihnen verbrannten bei lebendigem Leib, nachdem die türkische Armee mehrere Keller in Brand gesetzt hatte.

Diesen Kriegsverbrechen waren wochenlange Kämpfe in den Städten Nordkurdistans vorausgegangen. Bewaffnete Jugendliche hatten in ihren Stadtteilen Barrikaden errichtet, um sich und die Bevölkerung vor den Angriffen des türkischen Staatsapparats zu schützen. Die türkische Armee setzte auf volle Härte und griff die Jugendlichen und die Bewohner*innen mit schweren Waffen an. Die Zahl der Opfer war am Ende groß, doch der Widerstand war es ebenfalls.

Auch der »kontrollierte Putschversuch« vom 15. Juli 2016 passte gut in das Kriegskonzept der AKP. Der Regierungsblock wusste das letzte Aufbäumen einer Clique der Gülen-Bewegung nur zu gut für die eigenen Zwecke zu missbrauchen. Die AKP verhängte am 20. Juli den Ausnahmezustand und ging gnadenlos gegen jegliche oppositionellen Strukturen im Staat vor. Jede Person, die nicht auf Regierungslinie war, konnte nun unter dem Vorwurf der FETÖ- oder PKK-Mitgliedschaft weggesperrt werden. Die überfüllten Gefängnisse wurden abermals zu Folterstätten des türkischen Staates. Damit wurde die demokratische Zivilgesellschaft in der Türkei ausgeschaltet, während die Medienlandschaft fast ausnahmslos gleichgeschaltet wurde.

Im Zuge des Verfassungsreferendums vom 16. April 2017 und der Parlamentswahlen vom 24. Juni 2018 wurde die administrative Struktur der Türkei abermals zentralisiert. Parallel wurden demokratisch gewählte Bürgermeister*innen abgesetzt und die Kommunalverwaltungen faktisch unter die Kontrolle der Zentralregierung gestellt. Statt Gewaltenteilung herrscht seitdem »Gewalteneinheit« in der Türkei, und diese konzentriert sich in den Händen des Staatspräsidenten Erdoğan. Parallel zu ihrer faschistischen Innenpolitik verfolgt die Regierungspartei in ihrer Außenpolitik einen neo-osmanischen Expansionskurs. Das politische und militärische Eingreifen der Türkei in Syrien, im Irak, in Libyen, im Kaukasus, dem östlichen Mittelmeer und Berg-Karabach können durchaus als Belege dafür gelten.

Insbesondere nach den Parlamentswahlen vom Juni 2015 gestaltete sich unsere Arbeit im legalen politischen Bereich als äußerst schwierig. Jede noch so kleine demokratische Aktion wurde sofort von der Polizei mit Gasgranaten, Wasserwerfern oder unter Gebrauch von Schusswaffen attackiert. Staatliche Vertreter*innen vor Ort verweigerten selbst die Gesprächsanfragen der HDP-Abgeordneten. Der Staat war also an keinerlei Dialog interessiert. Ähnlich wie in den 1990er-Jahren geschehen, wurde uns in manchen Orten nicht einmal mehr gestattet, mit der Bevölkerung in Kontakt zu treten.

Trotz all dieser Angriffe versuchten wir unsere politische Arbeit in enger Abstimmung fortzusetzen. Ich war in dieser Zeit Co-Vorsitzender des DTK. Dieses Amt übte ich gemeinsam mit Selma Irmak und zuletzt mit Leyla Güven aus. Wir waren fast ausschließlich damit beschäftigt, unsere Organisationen am Leben zu halten. Wir sahen aber auch, dass die staatliche Umzingelung immer enger wurde und wir möglicherweise bald wieder im Gefängnis landen würden. Dennoch waren wir zu keinem Zeitpunkt bereit, von unserem Widerstand abzulassen oder auch nur einen Schritt zurückzuweichen.

In den Jahren 2015 und 2016 litt ich unter ernsten gesundheitlichen Problemen. Herz- und Atemprobleme machten mir ebenso zu schaffen wie meine Schlafstörungen. Nach Rücksprache mit Freund*innen und Bekannten hielt ich es für sinnvoll, Mich vor einer möglichen Festnahme noch einmal in Ankara medizinisch untersuchen zu lassen. Ende Oktober machte ich mich hierfür auf den Weg in die Hauptstadt. Dort erhielt ich folgende Nachricht von Leyla Güven: »Wir haben hier vor Ort nochmals mit allen Freund*innen diskutiert und erachten es für richtig, dass du nach Europa ausreist und dort deine medizinische Behandlung fortsetzt.« Die Nachricht überraschte mich – auch deshalb, weil wir vorher nicht darüber gesprochen hatten. Auf meine Rückfrage zu den Hintergründen dieses Vorschlags schrieb sie mir, dass ein HDP-Abgeordneter am folgenden Tag nach Ankara reisen und mich über die jüngsten Entwicklungen informieren werde.

Mir wurde mitgeteilt, dass ein Informant die HDP über eine anstehende große Verhaftungswelle in Kenntnis gesetzt habe. Daraufhin waren sich meine Parteikolleg*innen einig, dass ich aufgrund meiner gesundheitlichen Probleme und meiner langen Haftzeit das Land sofort verlassen solle. Um das Thema nochmals zu erörtern, kam ich in Ankara mit dem damaligen HDP-Co-Vorsitzenden Selahattin Demirtaş zusammen. Auch er war der Meinung, dass ich ohne weitere Verzögerung ausreisen solle.

Bereits am kommenden Tag begab ich mich also an den Istanbuler Flughafen. Mein Abgeordnetenkollege Ferhat Encü sollte mich auf meinem Flug nach Brüssel begleiten. Doch kurz vor dem Abflug beschlagnahmten Polizisten den Reisepass meines Begleiters Encü auf Grundlage eines kurzfristigen Gerichtsbeschlusses, den sie uns vorlegten. Wir diskutierten darüber. Einige Abgeordnete der CHP, die zufällig vor Ort waren, eilten uns zu Hilfe. Doch am Ende war nichts zu machen und der Abflug von Ferhat Encü wurde verhindert. Mir näherte sich ein Zivilpolizist, der erklärte, dass meiner Abreise rechtlich nichts im Wege stehe, und mir mein Flugticket übergab.

Ich verabschiedete mich von den Freund*innen, die mit zum Flughafen gekommen waren, und sagte, dass ich sie spätestens um 17 Uhr über meine Ankunft in Brüssel informieren würde. Sollte ich mich bis dahin nicht melden, würde das bedeuten, dass ich in irgendeiner Form festgenommen worden war. Ehrlich gesagt nahm ich an, dass die Polizei sich im Abflugbereich nicht auf eine weitere Diskussion hatte einlassen wollen und mich kurz vor dem Einstieg in den Flieger festnehmen würde. Doch glücklicherweise täuschte ich mich und landete pünktlich am Brüsseler Flughafen. Dort wurde ich von unseren Freund*innen empfangen.

Einige Stunden nach meiner Ankunft erfuhr ich, dass die erwartete Festnahmewelle stattgefunden hatte. Insgesamt zehn HDP-Abgeordnete, darunter die beiden Co-Vorsitzenden Selahattin Demirtaş und Figen Yüksekdağ sowie der am Abflug gehinderte Ferhat Encü, waren in der Nacht auf den 4. November festgenommen worden.

Weshalb ich als Co-Vorsitzender der DTK nicht auf der Festnahmeliste stand, ist mir bis heute ein Rätsel. Einige Monate später wurde ich in Abwesenheit im »KCK-Hauptverfahren« zu einer neunjährigen Haftstrafe verurteilt. Diese Strafe wurde später vom Berufungsgericht bestätigt. Als daraufhin ein Haftbefehl gegen mich erlassen wurde, erübrigte sich für mich die Möglichkeit einer Rückreise vorerst vollständig. Hinzu kam, dass die Staatsanwaltschaft von Ankara eine weitere Anklage gegen mich im Rahmen des »Kobanê-Prozesses« erhob.

Ein neuer Lebensabschnitt begann für mich. Zum Zeitpunkt der Niederschrift dieser Biografie Anfang 2021 befinde ich mich nun seit mehr als vier Jahren im deutschen Exil.

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