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Die Verkehrsrevolution

Ständig müssen wir warten, auf den nächsten Bus und die große Liebe, auf eine Nachricht oder einen Neuanfang. Jedes Mal ist der Stillstand eine Bewährungsprobe, denn als moderne Menschen haben wir eines natürlich nie: Zeit. Als privilegiert gelten diejenigen, die alles ohne Verzögerung bekommen. Doch um welchen Preis? Liegt nicht gerade im Warten das Glück? „Wer die Kunst des Wartens nicht beherrscht, dem geht auch die Gelassenheit verloren – und die Vorfreude“, sagt Timo Reuter. Er betrachtet das Warten als Sandkorn im Getriebe der pausenlosen Verwertungsmaschine. Und als Möglichkeit, uns neue Freiräume zu öffnen. In seinem Buch voller unterhaltsamer Geschichten und erstaunlicher Erkenntnisse untersucht er den politischen Gehalt des Wartens, dessen subversives Potenzial sowie die beglückende Kraft des Nichtstuns, der Muße und des Verweilens.

Der vielleicht größte Verursacher »systemischer« Wartezeiten ist bis heute jedoch das Transportwesen. Mit den Eisenbahnen begann in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts die große Verkehrsrevolution. Sie sind Dreh- und Angelpunkt der Industrialisierung und haben die Welt für ein Massenpublikum erschlossen – zugleich aber machen sie die Dialektik des modernen Fortschritts deutlich, denn seit Anbeginn war die Beschleunigung untrennbar mit dem Warten verbunden. An den neu gebauten Bahnhöfen versammelten sich Tausende Menschen – doch ihnen fehlte die Routine, um sich ohne Weiteres in den organisatorischen Ablauf einzufügen. Wenn der Zug nicht gerade Verspätung hatte, kamen die Passagiere zu spät, an Bahnhöfen herrschte in den Pionierjahren der Dampflocks oft Chaos. Es gab wenig klare Regeln, kaum abgetrennte Wartebereiche – und die Uhren gingen ohnehin oft ungenau.

Das moderne Warten, das heute Teil unseres Alltags ist, resultiert also seit Anbeginn auch aus einem Organisationsproblem: Wie sollten all die Menschen mit den Anforderungen eines komplexen Systems synchronisiert werden? Zugleich veränderte sich die Art und Weise Des Wartens radikal: Es war nun kürzer, planbarer – und vor allem harmloser als früher. Schließlich ging es dabei nicht mehr um die überlebenswichtige Ernte oder die Rückkehr eines geliebten Menschen von hoher See. Das neue Warten drehte sich vielmehr um etwas Positives: um die Erweiterung der persönlichen Mobilität. Und so war die Warterei für viele Menschen zunächst Teil von etwas Großem, Aufregendem. Reisende kamen eigens früher an die Bahnhöfe, nur um voller Stolz die neue Technologie hautnah zu erleben, bevor die Reise wirklich losging. Warten hieß Ausschau halten und staunen.

Weil also immer mehr Menschen in die Bahnhöfe strömten, mussten die Abläufe besser koordiniert werden. Diese organisatorische Mammutaufgabe wurde durch riesige Warteräume bewältigt, die schon bald die größte Fläche im gesamten Bahnhofsgebäude einnahmen. Weil die Züge nicht auf die Menschen warten konnten, mussten die Menschen eben auf die Züge warten. Niemand durfte fortan einfach so zum Gleis gehen, sondern Fahrgäste mussten bis kurz vor der Abfahrt in den Wartehallen bleiben. Der Mobilitätsforscher Robin Kellermann spricht in diesem Zusammenhang von einem »Warteimperativ«: Wer nicht bereit war, sich in den Warteraum zu begeben, durfte nicht mitfahren.

Dadurch wurden die Menschen vor große Herausforderungen gestellt: So ungewohnt es gewesen sein muss, sich mit 30 oder 40 Kilometern pro Stunde durch die Landschaft zu bewegen, so neuartig war es, 20 oder 30 Minuten einfach nur abwarten zu müssen, bis es endlich losging. Das Stillstehen war wohl so anstrengend wie die Reise selbst. Die Zeit rückte dabei unweigerlich in den Fokus der Aufmerksamkeit: Sie wurde den Menschen ungefragt geschenkt – längst empfinden wir dieses Geschenk als vergiftet. Doch schon in den Bahnhöfen des späten 19. Jahrhunderts herrschte bald nicht mehr nur Vorfreude, sondern auch Anspannung, Unruhe und Ungeduld. Um sich abzulenken, begannen die Menschen beim Warten zu lesen. Der »Warteimperativ« wurde zum »Tätigkeitsimperativ« – und schließlich zu einem »Trink­imperativ«. In den Warteräumen eröffneten Restaurants, die »Warteökonomie« entwickelte sich und mit ihr die bis heute gängige Praxis, Pausen für den Konsum zu kommerzialisieren.

Zur Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert kippte die Einstellung zum Warten dann endgültig. Die neue Bahnhofsarchitektur war steingewordener Ausdruck dieses Wandels: Einst monumentale Wartesäle wurden nun baulich an den Rand gedrängt. Während sich Passagiere früher in den großen Wartebereichen sammelten, verkamen diese mehr und mehr zu Orten der Erholungsbedürftigen und Gestrandeten. Die neuen Bahnhofshallen, wie wir sie noch heute kennen, sind zugleich Wartehalle und Durchgangsbereich, aus Orten des Stillstandes wurden Orte der Bewegung. Die Menschen wollten nicht mehr bevormundet werden – und fanden nun ganz im Zeichen der Zeiteffizienz selbstständig ihren Weg zu den Gleisen. Am besten ohne verlorene Schritte und mit so wenig (Warte-)Zeit wie möglich. Das Warten, diese einst obligatorische Aufgabe, wurde zunehmend als Problem angesehen: von den Bahnhofsplanern, aber auch von den Wartenden selbst.

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