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Warum dieser Krieg so gefährlich ist

In dem Buch „Ukrainekrieg. Warum Europa eine neue Entspannungspolitik braucht“, herausgegeben von Sandra Kostner und Stefan Luft, analysieren die Autorinnen und Autoren Ursachen und Folgen des Ukrainekrieges und dabei im Besonderen die Rolle des Westens. Eine neue Entspannungspolitik, so die These, ist die zentrale Voraussetzung für einen Frieden in Europa und ein Ende des Konflikts in der Ukraine. Vertrauensbildende Maßnahmen und Verhandlungslösungen müssen ins Zentrum der politischen Debatte gerückt werden. Denn nur die Abkehr von einer Politik der Konfrontation, der Expansion und unversöhnlichen Rivalität kann einen großen Krieg und den Einsatz von Atomwaffen verhindern. Die internationalen Autorinnen und Autoren, die dieser Band versammelt, zeigen die verheerenden Auswirkungen der bisherigen Politik auf und bieten interdisziplinäre und multiperspektivische Analysen der Konfrontationspolitik zwischen Russland und der NATO sowie Perspektiven für ein Europa in Frieden und Freiheit. Der Band leistet einen Beitrag zur Versachlichung der Diskussion.

Immer mehr Stimmen warnen vor einer finalen Eskalation des Krieges über einen NATO-Bündnisfall und einen anschließenden Einsatz von Nuklearwaffen. Diese Stimmen – von Henry Kissinger bis zu NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg – finden wenig Beachtung, obwohl stichhaltige Gründe angeführt werden. Involviert in den Krieg in der Ukraine sind mit Russland, den USA und der NATO drei der mächtigsten militärischen Akteure der Welt. Zur Verdeutlichung nachfolgend ein Überblick über die militärische Schlagkraft der involvierten Parteien:

Militärausgaben in Milliarden US-Dollar (2021):

USA: 801,00

Russland: 65,90

Frankreich: 56,60

Deutschland: 56,00

Ukraine: 5,94

NATO: 1175,00

Nukleare Sprengköpfe (Stand: Januar 2022) :

Russland: 5 977

USA: 5 428

Frankreich: 290

Vereinigtes Königreich: 225

NATO: 5 943

Militärische Streitkräfte – Truppenstärke :

USA: 1 390 000

Russland: 850 000

Ukraine: 200 000

NATO: 3 366 000

Die Vereinigten Staaten von Amerika sind mit weitem Abstand die größte Militärmacht der Welt. Lediglich bei den nuklearen Sprengköpfen verfügt Russland über die größte Anzahl – auch im Vergleich zur NATO. Frankreich und Deutschland investieren fast doppelt so viel in ihre Militärhaushalte wie Russland. Im Verhältnis Russland-Ukraine ist Russland der eindeutig überlegene Staat. Ohne die massive und langjährige Aufrüstung durch die USA und die NATO (Ausbildung und Ausrüstung) hätte die Ukraine keine Chancen, im Krieg gegen Russland über Monate zu bestehen.

Die Eskalationsspirale dreht sich mit immer größerer Geschwindigkeit. Die Politik gerät angesichts dieser Dynamik an die Grenzen ihrer Steuerbarkeit. Zu den daraus resultierenden konkreten Gefahren und Risiken gehören:

Stellvertreterkriege bergen die Gefahr der regionalen Ausweitung und der Eskalation, insbesondere wenn die mittelbaren Kriegsparteien (wie die NATO) unmittelbar an das Kriegsgebiet angrenzen. Im Falle der NATO kommt der Automatismus der Beistandsverpflichtung nach Artikel 4 des Bündnisvertrages hinzu. Der Einschlag einer ukrainischen Luftabwehrrakete auf polnischem Territorium am 15. November 2022 war ein solcher Moment, in dem ein offizieller Kriegseintritt der NATO gedroht hat (die BILD-Zeitung und die Vorsitzende des Verteidigungsausschusses des Deutschen Bundestages, Strack-Zimmermann, FDP, hatten schon den Bündnisfall der NATO öffentlich behauptet). Bislang tragen die unmittelbaren Konfliktparteien Ukraine und Russland die zivilen und militärischen Opfer alleine – wie in Stellvertreterkriegen üblich. Das ist für die dahinterstehenden Patronage-Staaten ein erheblicher Vorteil. Für den Versuch einer Rückeroberung besetzter Gebiete durch die Ukraine sowie weitere Waffenlieferungen spreche schließlich auch, heißt es in einer Analyse des österreichischen Standard, »dass die USA und alle, die Russland als Gegenspieler betrachten, noch nie so günstig und ohne einen eigenen toten Soldaten einem strategischen Rivalen so viel Schaden zufügen« konnten. Wie lange dieses Kosten-Nutzen-Verhältnis so eingeschätzt wird, ist mitentscheidend für den Fortgang des Krieges.

Jede Woche steigt das Risiko, dass der Konflikt außer Kontrolle gerät und die NATO zur unmittelbaren Kriegspartei wird. Der Dritte Weltkrieg hätte spätestens dann begonnen. Jens Stoltenberg, Generalsekretär des Militärbündnisses, warnte Mitte Dezember 2022 nachdrücklich vor einem solchen Szenario. »Wenn die Dinge schiefgehen, dann können sie furchtbar schiefgehen«, sagte er. Solche Alarmsignale werden in der öffentlichen Debatte weitgehend ignoriert. Die ukrainische Führung hat ein offensichtliches Interesse, die NATO in den Krieg hineinzuziehen. Sowohl die Präsidentin der EU-Kommission als auch der deutsche Bundeskanzler haben von Beginn des Krieges an erklärt, die Ukraine solle diesen Krieg gewinnen und Russland müsse ihn verlieren. Um dieses Ziel zu erreichen, befindet sich die NATO – auch Deutschland – in einem Stellvertreterkrieg mit Russland, der »Züge eines indirekt geführten Weltkriegs« trägt. Die Gefahr einer atomaren Konfrontation sowie die Perzeption der russischen Regierung (»rote Linien«) werden bisher nicht ernst genommen, was sich als verhängnisvoll erweisen kann. Dass eine in die Enge getriebene militärische Großmacht (mit den meisten nuklearen Sprengköpfen weltweit) diese Option nicht in Erwägung ziehen wird, ist nicht ausgemacht. Im Gegenteil: John J. Mearsheimer kommt zu dem Schluss: »Wenn die amerikanische Politik Erfolg hat und die Russen auf dem Schlachtfeld gegen die Ukrainer verlieren, könnte Putin zu Atomwaffen greifen, um die Situation zu retten. […] Hier ist ein perverses Paradoxon im Spiel: Je erfolgreicher die Vereinigten Staaten und ihre Verbündeten bei der Verwirklichung ihrer Ziele sind, desto wahrscheinlicher ist es, dass der Krieg nuklear wird.«

Die Politik nach dem Motto »Waffen in die Ukraine, mehr und noch mehr Waffen« entfaltet eine Dynamik, die nur noch begrenzt zu steuern ist. Die NATO-Staaten haben im Laufe des Jahres 2022 Waffen und Munition im Wert von 40 Milliarden US-Dollar zur Verfügung gestellt sowie Aufklärungsdaten, die von erheblicher Bedeutung sind. Der Artilleriekrieg in Der Ukraine bewirkt einen Munitionsverbrauch solchen Ausmaßes, wie er seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr erreicht wurde. Die New York Times berichtet, die ukrainischen Truppen hätten im Sommer 2022 täglich zwischen 6 000 und 8 000 Schuss in der Donbass-Region abgegeben – dem stehe eine Produktion der US-amerikanischen Rüstungsindustrie von insgesamt 15 000 Schuss monatlich gegenüber. Nachschubprobleme – vor allem für Munition – sind daher sowohl von der Ukraine als auch von Russland zu bewältigen. Die NATO kann den Munitionsbedarf der Ukraine nur eingeschränkt decken – zumal in der Ukraine vor allem Militärgerät sowjetischer Bauart genutzt wird. Bei der Bundeswehr wird der »Beschaffungsstau« für Munition auf 20 Milliarden Euro geschätzt. Der Haushaltsausschuss des Bundestages hat den Etat des Verteidigungsministeriums im November 2022 um 1,1 Milliarden Euro für Munition erhöht, zusätzlich können in den Folgejahren jeweils weitere 500 Millionen Euro für diesen Zweck ausgegeben werden. Anfang Dezember 2022 gab der Rüstungskonzern Rheinmetall bekannt, die Bundeswehr habe einen Auftrag »über die Lieferung von über 600 000 Schuss Mittelkalibermunition für den Schützenpanzer Puma erteilt. Insgesamt soll Munition für rund 576 Millionen Euro beschafft werden.« Bis Juni 2023 will der Konzern eine neue Fertigungsanlage für Munition in Deutschland in Betrieb nehmen, um der rasant wachsenden Nachfrage nachkommen zu können. In Ungarn soll ebenfalls eine neue Munitionsfabrik errichtet werden.

Die politische Dynamik der Militarisierung geht ungebremst weiter: Die Fixierung auf einen militärischen Sieg der Ukraine und eine Niederlage Russlands hält unvermindert an. Diplomatische Initiativen sind nicht in Sicht. Der Druck, immer mehr und vor allem schlagkräftigere Waffen zu liefern, nimmt permanent zu. Die Anfang Januar 2023 vom Bundeskanzler und dem US-Präsidenten beschlossene Lieferung von Marder-Schützenpanzern galt schnell als abgehakt. »Wir lassen nicht locker. Nach dem Marder kommt der Leopard. Ich bleibe dran«, erklärte die Vorsitzende des Verteidigungsausschusses des Bundestages, Strack-Zimmermann (FDP). CDU/CSU, FDP, SPD, Bündnis 90/Die Grünen, der weitaus überwiegende Teil der veröffentlichten Meinung sowie die polnische, die britische, die französische und die US-amerikanische Regierung drängten darauf, »endlich« den Weg frei zu machen für Kampfpanzer wie den Leopard 2. Das galt auch für Raketensysteme und Kampfjets. »Wir werden nicht aufhören, Waffen an die Ukraine zu liefern. […] Wir werden unsere Lieferungen immer an den Bedarf auf dem Schlachtfeld anpassen«, verlieh Vizekanzler Habeck (Bündnis 90/Die Grünen) der vorherrschenden Meinung in der deutschen Politik Ausdruck. Die 50 Verteidigungsminister, die am 20. Januar 2023 auf der Waffenstellerkonferenz der US-Regierung auf dem US-Luftwaffenstützpunkt Ramstein zusammenkamen, haben weitere Lieferungen beschlossen. US-Verteidigungsminister Lloyd Austin kündigte unter anderem die Lieferung von 59 Schützenpanzern des Typs Bradley an. Großbritannien will 600 Luft-Boden-Raketen der Ukraine zur Verfügung stellen. Deutschland will die Lieferung der Kampfpanzer Leopard 2 noch prüfen. Moderne Kampfpanzer sind dafür ausgelegt, offensiv auf feindliches – in dem Fall russisches – Territorium vorzudringen und damit eine weitere gefährliche Eskalation herbeizuführen. Während Friedensinitiativen nicht in Sicht sind, geht die Zerstörung der Ukraine in enormer Geschwindigkeit weiter. Die Ukraine ist Russland hinsichtlich der militärischen Ausstattung massiv unterlegen. Die Aufrüstung der Ukraine durch den Westen verhindert einerseits einen schnellen Erfolg des Aggressors Russland, andererseits nehmen die materiellen und immateriellen Schäden und die Zahl der Opfer täglich zu.

Deutschland spielt international eine führende Rolle in der informellen, internationalen Anti-Russland-Koalition und ist faktisch Kriegspartei: Unter den 40 Staaten, die die Ukraine unterstützen, ist Deutschland nach den USA das zweitgrößte Geberland. Mit militärischer, humanitärer und finanzieller Hilfe im Wert von 12,6 Milliarden Euro (zwischen 24. Januar und 20. November 2022) steht es an der Spitze der EU-Mitgliedsstaaten. Von Deutschland zugesagte Waffen- und Ausrüstungslieferungen belaufen sich auf 2,3 Milliarden Euro – Großbritannien und Frankreich kommen zusammen auf 2,4 Milliarden. Insgesamt haben die EU-Staaten mehr Mittel zugesagt als die USA. Zudem ist Deutschland eine Drehscheibe der militärischen Koordination der USA im Allgemeinen, des Aufmarsches im Osten und der Unterstützung der Ukraine im Besonderen. Ukrainische Soldaten werden in Deutschland an westlichen Waffensystemen ausgebildet, unter anderem durch die Amerikaner im bayerischen Grafenwöhr.

Die technischen, personellen und logistischen Probleme im Zusammenhang mit der Lieferung modernster Militärtechnik bleiben in der deutschen Debatte weitgehend unbeachtet. Gleiches gilt für die damit einhergehenden Eskalationsrisiken. Für Bedienung, Einsatz, Instandhaltung und Reparatur der verschiedenen Panzermodelle u. a. aus deutscher, US-amerikanischer und französischer Produktion sind jeweils mehrmonatige spezielle Ausbildungen nötig. Bedienungsanleitungen gibt es weder in russischer noch in ukrainischer Sprache. Für die Ersatzteile und die spezifische Munition müssen Lieferketten aufgebaut werden. Unbeantwortet ist bislang die Frage, wie die Panzer in die Ukraine und dann an die Front transportiert werden? Realistisch scheint nur ein Transport per Bahn, allerdings haben Polen und die Ukraine unterschiedliche Spurweiten, was einen längeren Halt an der Grenze notwendig macht. Die russische Seite wird wohl kaum dabei zusehen, wie umfangreiche Panzerlieferungen die Grenze passieren. Ein Angriff im Grenzgebiet zwischen einem NATO-Mitglied und der unmittelbaren Kriegspartei Ukraine birgt ein hohes Risiko, dass der Bündnisfall ausgelöst wird.

Der Krieg löst eine Aufrüstung aus, wie sie Europa nach dem Zweiten Weltkrieg nicht gesehen hat. Die 100 Milliarden Sonderfonds für die Bundeswehr sind lediglich der Anfang gewesen. Die sozialdemokratische Wehrbeauftragte des Deutschen Bundestages, Eva Högl, bringt Mitte Januar 2023 die Summe von 300 Milliarden ins Spiel. In der NATO wird politischer Druck erzeugt, mehr als zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts für Rüstungsausgaben aufzuwenden. NATO-Generalsekretär Stoltenberg forderte Mitte Januar 2023, man müsse »die Produktion hochfahren, um die Vorräte der Alliierten aufzufüllen und um sicherzustellen, dass wir die Ukraine lange weiter versorgen können«. Die New York Times berichtet: »Er [der Westen, S.K./S.L.] sendet starke Signale an die westliche Rüstungsindustrie, dass längerfristige Verträge anstehen – und dass mehr Schichten von Arbeitern eingestellt und ältere Fabrikanlagen renoviert werden sollten. Es wird sogar erörtert, dass die NATO in alte Fabriken in der Tschechischen Republik, der Slowakei und Bulgarien investieren könnte, um die Herstellung von 152-mm- und 122-mm-Granaten sowjetischen Kalibers für die noch weitgehend aus der Sowjetzeit stammenden Artilleriewaffen der Ukraine wieder aufzunehmen.« Der Krieg wird somit nicht nur auf dem Schlachtfeld entschieden, sondern auch an der Heimatfront – in den Produktionsstätten der Rüstungsindustrie.

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