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Das garstig Viech in mir

Ich war nie krank. Aber plötzlich bin ich in einem anderen Leben aufgewacht – mit etwas, vor dem ich immer Angst hatte, wahrscheinlich auch Sie: Krebs. Unser Autor Arno Luik hat nach dieser niederschmeternden Diagnose ein Tagebuch geschrieben, morgen erscheint es unter dem Titel „Rauhnächte“.

Heute bei der Chemo liegt wieder einmal, es ist wirklich bedrückend, auf einer Behandlungsliege eine junge Frau neben mir, höchstens 25 Jahre alt.

Sie muss nießen. Ich sage: „Gesundheit.“ Sie: „Danke.“

Sie sagt dieses „Danke“ reflexhaft, so, Dass es keine Bedeutung hat, einfach nur Höflichkeit ist. Ich sage: „Ich meine ,Gesundheit‘ ganz bewusst!“

Sie lacht auf, sagt: „Sie haben recht. Ja! Ja! Gesundheit! Wir brauchen Gesundheit.“

Und plötzlich liegen da zwei Menschen, beide hängen seit Stunden an den Tröpfen, beide haben Krebs, beide sind traurig, aber beide müssen nun herzhaft lachen, sind auf einmal fröhlich: Weil eine Phrase plötzlich Wahrheit, Wunsch und Sehnsucht transportiert.

Es ist nun sechs Monate her, dass ich diese Diagnose bekam: Darmkrebs.

Die Momente nach meiner Darmspiegelung hatten Elemente des absurden Theaters. Ich war sediert worden, und als ich aufwachte holte Mich der Arzt aus dem OP-Raum in sein Besprechungszimmer ab. Auf dem Weg dorthin sagte ich, „tolle Sache, diese Sedierung. Warum hilft man Menschen, die sterben wollen, ihr Leiden sehnlichst verkürzen möchten, nicht mit so einem Mittel? Hunde schläfert man menschlich ein“, sagte ich, „aber der Mensch muss am Ende seines Lebens oft leiden wie ein Hund.“

„Ich möchte nun nicht“, antwortete der Arzt und setzte sich hinter seinen Schreibtisch, „mit Ihnen über Sterbehilfe philosophieren. Unsere Aufgabe ist es, Leben zu retten.“

Komisch, dachte ich, warum guckt der Kerl so ernst? Angst kriecht in mir hoch. „Setzen Sie sich, ich habe schlechte Nachrichten für Sie: Ich habe in Ihrem Darm einen ziemlich großen Tumor gefunden, ich konnte ihn nicht anheben, nicht entfernen, er ist wie eine Raupe in die Darmwand gewachsen. Ich lass das Gewebe noch analysieren, aber meine Erfahrung sagt mir: Es sieht ziemlich schlecht für Sie aus. Wenn Sie Glück haben, hat er noch nicht ausgestrahlt.“

Entsetzter Blick von mir. Der Arzt, meinte er es etwa als Beruhigung?: „Das ist nun nicht unbedingt Ihr Todesurteil.“

Bin ich seit dieser Diagnose ein anderer Mensch geworden? Du hast so traurige Augen, sagte vor Kurzem jemand zu mir. Ich versuche meinen Zustand, meine latente Traurigkeit zu verbergen, es gelingt offenbar nicht. Dass mir auch noch eine wichtige Sehne im Fuß gerissen ist – gestern hätte mich das überaus geärgert, heute ist der schmerzhafte Abriss ein fast willkommenes Ablenkungsprogramm.

Ich merke, dass Ich Mich seit dieser Diagnose anders bewege: Ich schau häufig stur nach vorne, Blick eher nach unten, ich schaue, was ich sonst immer tat, den Menschen nicht mehr ins Gesicht, würde ein Bekannter mir nun entgegenkommen, ich würde an ihm einfach vorbeistiefeln. Ich bewege mich auch viel langsamer.

Und ich schaue nun verblüfft auf jene unbeschwerten Tage zurück, die gar nicht so lange her sind – und mir jetzt doch fast irreal vorkommen. Neulich noch herrlich unbeschwert im Main geschwommen, neulich noch unbeschwert …

Unbeschwert? Dieses Gefühl ist Vergangenheit.

Surreal nun, wie ich mich oft fühle: Es gibt Tage, da merke ich nicht, dass ein garstig Viech in meinem Körper wütet, dass ein Bürgerkrieg in meinem Körper tobt; manchmal fühle ich mich so gesund, dass ich gar  nicht wüssste, dass ich krank bin – wäre da nicht diese Diagnose. Aber dann, plötzlich, überfällt mich dieses garstig Viech in meinem Körper, und ich liege dann auf der Couch, gekrümmt, mit Schmerzen, von denen ich nicht ahnte, dass der Körper sie seinem Körper zufügen kann. Ich erfahre dann, um mit Freud zu sprechen, dass ich „nicht mehr Herr im eigenen Haus“ bin.

Bin ich, nochmals, seit der Diagnose ein anderer Mensch geworden? Ich bin wacher geworden. Wohl auch sensibler, empfindsamer. Ich freue mich plötzlich über Dinge, die ich früher kaum beachtet habe: neulich etwa, minutenlang, habe ich einen Baum angeschaut und mich über ihn gefreut, weil der die ersten Blüten trieb. Leben.

Und ich freue mich auch ungemein (verzeihen Sie dieses nun nachfolgende Klischee), dass jetzt endlich der Frühling kommt: Licht, Wärme, Sonne – das tut der Seele gut. Diese Helligkeit ist Balsam nach diesen düsteren Wintertagen. Aber nicht immer.

Neulich, als die Sonne sich kitschig-wunderbar glutrot über die Bäume des Innocentia-Parks unweit meiner Wohnung stemmte und mein Arbeitszimmer freundlich ausleuchtete, war diese strahlende Sonne fast eine Beleidigung und Belastung für mich: Sie stand plötzlich für Freude und Lebenslust; sie zeigte mir fast zu brutal, nach was ich mich sehne.

Tja, es gibt kein richtiges Wetter im falschen Leben.

Ich merke auch, dass das, was mir gestern noch so wichtig war, plötzlich nicht mehr so wichtig ist. Politische Diskussionen? Gutes Essen? Wein? Der Krieg in der Ukraine? Die wachsende Armut? Die Ungewissheit, wie das bloß wird – mit Inflation, explodierenden Preisen, dieser ganze Wahnsinn, der uns Tag für Tag umgibt, die Reden der Politiker, ihre Phrasen, mit denen sie ihre Hilflosigkeit oder ihr Unvermögen zu verbergen suchen – weniger wichtig als früher. Ich beobachte die allgemeinen Aufgeregtheiten mit Verblüffung: Irgendwie ist da eine Schranke zwischen mir und der anderen Welt – und diese Schranke geht nicht hoch.

Oder vielleicht doch? Ich hoffe es.

Manchmal, nachts, die Stunden verstreichen dann oft unendlich langsam, denke ich: Wie doof doch der Mensch ist. Es gibt doch Wichtigeres als sich in der Ukraine oder im Jemen oder Armenien oder anderswo, also in viel zu vielen Ländern auf dieser eh schon geschundenen Erde zu malträtieren, zu erschießen, zu zerbomben, zu verletzen, zu verstümmeln.

Rauhnächte. In ihnen poltern die Geister. Albträume.

Es ist schon seltsam: Manchmal träume ich wunderschöne Dinge, richtig spannende Filme in Farbe, Surroundsound, wirklich tolle Unterhaltung, nur: Am Morgen danach kann ich mich an sie, das Schöne, nicht mehr erinnern.

Nur an die schlimmen, fast unerträglichen Albträume. Etwa an diesen: Ein Arzt sagt zu mir, wenn Sie bluten, nur ein wenig Blut verlieren, sterben Sie. Ein paar Minuten später platzt mir die Wange auf, Blut schießt heraus, und mit einem Angstschrei wache ich auf.

Während ich das hinschreibe, wird eine Studie in Hamburg bekannt: 15.000 Menschen erkranken jedes Jahr in Hamburg an Krebs, etwa 100.000 Menschen in der Stadt leben mit der Krankheit. Und: Jeder zweite Bundesbürger erkrankt in seinem Leben an Krebs.

Draußen ein ganz finsterer Tag, ich ziehe das Kopfkissen über mich. Kommenden Montag habe ich meine nächste Chemo.

Ich habe in meinem Berufsleben viele Gespräche mit Kranken und Sterbenden geführt und nun hilft mir das in meiner eigenen Krankheit.

Etwa die Lakonie von Manfred Rommel, Ex-Oberbürgermeister von Stuttgart. Der seine Parkinson-Krankheit bewunderungswürdig gelassen akzeptierte, „ich kann es nicht ändern, also rege ich mich nicht auf“, und selbst in den letzten Stunden seines Lebens seinen Humor nicht verlor: „Das Steuerrecht“, sagte mir der Schwerkranke bei unserer Begegnung, „verdirbt den Erben langsam jede Freud‘ am Sterben.“

„War es ein Schock für Sie, als Sie Ihre Diagnose bekamen?“ „Nein“, antwortete er, „ich habe nur gedacht: Gott sei Dank habe ich es nicht früher gekriegt! Mein Gott, was soll ich denn machen? Ich kann es doch nicht ändern. Parkinson ist ja eine ehrenwerte Krankheit. Syphilis wäre schlimmer.“

Gleichwohl, so gelassen wie er war, so groß war dennoch seine Sehnsucht nach Gesundheit. Wenn es denn helfen würde, „damit er wieder funktioniert“, könnten sie „in meinen Kopf Holzwolle reinstopfen“.

„Ich klammere mich ans Leben“, hat vor ein paar Jahren ein von Krebs Todgeweihter zu mir gesagt: „Ich klammere mich! Neulich habe ich in der Bibel einen Spruch gelesen, ich zitiere ihn ungenau: „Verführt dich die Hand zur Sünde, reiß sie raus, wirf sie weg!“ Ich zu dem Kranken: Nun verstehe ich bloß Bahnhof. Er: „Ich interpretier‘ das so: Wenn ich eine Therapie fände, die mich rettet, so würde ich genau das tun: Ich würde meine Hand opfern. Nicht unbedingt die rechte, denn ich bin Rechtshänder, aber die linke schon.“

Ich finde in vielen dieser Gespräche Trost, sie haben mich gelehrt, nicht mit meinem Schicksal zu hadern.

Ein paar Monate vor seinem Tod, Ende September 2001, habe ich den Chemiker und Philosophen Erwin Chargaff getroffen, vielleicht einer der letzten Universalgelehrten dieser Welt. Chargaff war nur noch ein Gerippe, erschreckend tief nach vorne gebeugt, aber er, der 96-Jährige war hellwach, und es war ein intellektuelles Erlebnis zu erfahren, wie dieser alte Mann seine Gedanken entwickelte – in seinem herrlich alt-wienerischen Dialekt mit einer verblüffend kräftigen Stimme: „Ohne Schmerz, Leid und Trauer ist man kein Mensch“, sagte er. Als Chargaff diesen Satz sagte, fand ich ihn voll tiefer Weisheit. Und heute? Heute wäre ich froh, da wären weniger Schmerz, Leid, Trauer in mir.

Gleichwohl: Chargaff hat recht. Es gibt kein Menschenrecht auf ewige Gesundheit.

Und erst diese dunklen Seiten des Lebens zeigen, was Glück ist, was Gesundheit bedeuten.

Nie mehr sage ich, da bin ich mir sicher, gedankenlos diesen Satz dahin: „Ich hoffe, Dir geht es gut.“

In ein paar Wochen, nach Bestrahlungstherapie und Chemositzungen, kommt für mich die Stunde der Wahrheit. Haben die Heilungsversuche etwas gebracht? Ist der Tumor weg? Komm ich ohne Operation aus? Mit Operation? Hat der Tumor ausgestrahlt? War alles vergebens? Vor diesem End-TÜV habe ich Angst.

Ich, für mich, hoffe natürlich, so wie ich es für alle Kranken erhoffe: Dass ich wieder gesund werde. Dass es so wird wie früher.

In mir ist eine unstillbare Sehnsucht nach Leben. Und das macht mich glücklich. Und trotz alledem: auch gelassen.

Dieser Text ist zuvor auch im „Focus“ erschienen.

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