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Das Leben hat kein Geländer

Christian Redl hat sein Leben aufgeschrieben – ehrlich, aufrichtig, ungeschönt. Aufgewachsen in den fünfziger Jahren unter der Obhut eines kriegstraumatisierten Vaters, macht er gegen den Willen der Eltern eine Ausbildung zum Schauspieler. Schonungslos gegen sich selbst erzählt er von seiner rastlosen Suche nach Erfolg und Anerkennung, von Triumphen am Theater, fantastischen Auszeichnungen sowie von gefährlichen Beziehungen und der Macht des Alkohols, von tiefer Melancholie, Euphorie und Verzweiflung. Aber auch von einer beglückenden späten Liebe, mit der er nicht mehr gerechnet hatte.

Mein Wechsel auf die Waldorfschule war ein harter Schlag für meinen Vater – eine Schule, die seiner Ansicht nach nur etwas für musisch angehauchte Weicheier war. Mit Sicherheit war es ihm nicht leichtgefallen, Mich dorthin verfrachten zu müssen – aber da ich für ihn ein hoffnungsloser Fall zu sein schien, blieb ihm keine andere Wahl. Ich wechselte also auf eine Lehranstalt, die von einem gewissen Rudolf Steiner gegründet worden war, einem Esoteriker und Rassisten, wie man heute weiß, der einen Satz wie »Je dunkler die Haut, desto dümmer der Mensch« gesagt haben soll.

Trotz alledem gelang mir auf der Waldorfschule schon im Laufe der ersten Wochen eine erstaunliche Metamorphose – ich wurde zu einem besseren Schüler. Und das aus einem einzigen Grund: Der direkte Kontakt zu den Pädagogen fand hier auf einer sehr viel persönlicheren Ebene statt, als ich es vom Gymnasium her gewohnt war. Denn dort prägte noch immer der deutsche Kasernenton den Unterricht – bis weit hinein in die sechziger Jahre. Was mir auf der Waldorfschule entschieden half, war das Vertrauen, das die Lehrer mir entgegenbrachten. Jederzeit hatten sie ein offenes Ohr für mich und sie waren sogar bereit, sich meine Sorgen auch außerhalb der Schulzeiten anzuhören.

Nicht alles, was auf Rudolf Steiners Schule unterrichtet wurde, fand ich sinnvoll. Der Eurhythmie-Unterricht zum Beispiel kam mir geradezu grotesk vor und die dafür zuständige Lehrerin konnte ich beim besten Willen nicht ernst nehmen. Sie schien sich in völlig abgehobenen Sphären zu bewegen und vermutlich glaubte sie allen Ernstes, im Besitz eines höheren Wissens zu sein. Absolut unerträglich wurde es, wenn sie Gedichte von Goethe vortrug. Sie deklamierte die Verse mit penetranter Lautstärke, wobei sie die Vokale endlos in die Länge zog, und unsere Aufgabe war es dann, ihre Rezitation in einen Ausdruckstanz zu transformieren.

Andererseits aber lernte ich auf der Waldorfschule zum Beispiel, wie man einen Feuerhaken schmiedet – in einer richtigen Schmiede mit Ambos und Esse … Wo gab es das sonst noch? Ich lernte das Schreinern in einer hauseigenen Tischlerei. Ich experimentierte mit Batik-Techniken zur Herstellung von farbigen Tüchern und sogar das Nähen einer Schürze wurde mir beigebracht. Darüber hinaus kreierte ich die unterschiedlichsten Tontöpfe, die ich meiner Mutter zu Weihnachten schenken konnte – und auch Gartenarbeit stand auf dem Stundenplan.

Am interessantesten fand ich das exakte Vermessen einer Landschaft in freier Natur. Wir nahmen uns den Bachverlauf im Umfeld der Schule vor und brachten die Messung mit Hilfe von Fluchtstäben und Nivelliergeräten millimetergenau zu Papier. Als das beeindruckende Ergebnis endlich besichtigt werden durfte, war das dann auch für mich ein bedeutender Moment.

Natürlich wurden wir auch in den klassischen Fächern unterrichtet, allerdings ohne den leistungsorientierten Druck, den ich vom Gymnasium her kannte. Die jährlichen Zeugnisse der Waldorfschule kurz vor den Sommerferien waren, im Gegensatz zu denen der Staatsschulen, stets sehr sorgfältig formulierte, persönliche Bewertungen – es gab keine Noten und jeder Lehrer musste einen mit eigener Hand geschriebenen Beitrag leisten, bei dem er sich nicht verschreiben durfte.

Was wäre wohl aus mir geworden, wenn es nicht auch das Laienspiel als Pflichtfach gegeben hätte? Mein Deutschlehrer Klaus Oettermann, ein Freund der schönen Künste und des Theaters im Besonderen, hatte in mir das Interesse für die großen Dramen der Weltliteratur geweckt. Schon mein Bruder, der seinerzeit in Marburg Medizin studierte, hatte mir sehr früh Schillers »Räuber« und Büchners »Dantons Tod« ans Herz gelegt und mich für die mir bis dahin unbekannten Werke begeistern können, wenn er daraus vorlas. Ein für mich und meinen Werdegang entscheidendes Erlebnis war seine Beschreibung eines François-Villon-Rezitationsabends im Audimax seiner Marburger Universität. Er hatte erleben dürfen, wie der in den sechziger Jahren für seine exaltierten wie unberechenbaren Wutausbrüche berüchtigte Klaus Kinski sich schreiend und flüsternd vor einem aufgewühltem Publikum verausgabte. Das Foto dieses offenbar Wahnsinnigen, das im Programmheft der Veranstaltung abgedruckt war, beeindruckte mich nachhaltig. Ich war fasziniert und zutiefst beeindruckt von der angsteinflößenden Intensität, die dieser Kinski ausstrahlte.

Der leicht glubschäugige Herr Oettermann wurde nun mein Verbündeter. Wie mein Vater hatte auch er eine cholerische Seite. Ich habe erlebt, wie er einen aufmüpfigen Mitschüler, der ihm frech widersprochen hatte und sich dabei das Grinsen nicht verkneifen konnte, quer durch den Klassenraum prügelte, bis dem die Nase blutete. Mit einer so gewalttätigen Maßregelung hatte ich in einer Waldorfschule nicht gerechnet. Das ging absolut gegen die Waldorf-Prinzipien und es ist mir bis heute völlig unerklärlich, dass das unwidersprochen geduldet wurde und auch nie irgendein Nachspiel hatte. Prügelnde Lehrer kannte ich nur aus der Volksschule der fünfziger Jahre. Wie ich erst Jahre später erfuhr, soll der gute Herr Oettermann während des Krieges nicht nur ein begeisterter Jagdflieger, sondern auch ein überzeugter Nationalsozialist und glühender Verehrer Hitlers gewesen sein, der davon träumte, eines Tages Theaterregisseur zu werden – der aber nach dem verlorenen Krieg nie den Mut gefunden hatte, sich diesen Traum zu erfüllen. Den ehemaligen Nazi jedenfalls merkte man ihm nicht mehr an. Regelmäßig lud er mich zu Kaffee und Kuchen zu sich nach Hause ein. Wir lasen Stücke, machten Pläne und beschlossen schließlich, Heinrich von Kleists »Prinz Friedrich von Homburg« zur Aufführung zu bringen, natürlich mit mir in der Titeltrolle. Der Rest der Klasse musste nicht lange überredet werden, die Rollen wurden verteilt und wir probten das Stück in unserer Freizeit zwei Mal pro Woche.

Die Premiere wurde zu einem Riesenerfolg für mich. Zum ersten Mal erlebte ich, dass mein Vater stolz auf mich war. Am Morgen nach der Aufführung klopfte er an die Tür meines Schlafzimmers, trat ein und weckte mich mit dem Ruf: »Aufstehen und raus aus dem Bett, Prinz von Homburg!« So hatte ich meinen Vater noch nie gesehen: Er strahlte über das ganze Gesicht und schien fassungslos und gleichzeitig ungeheuer erleichtert zu sein, dass sein eher unterbelichteter Sohn in der Aula der Waldorfschule gegen seine eigentliche Erwartung doch etwas zustande gebracht hatte. Sein Sohn war nicht irgendeiner unter vielen gewesen, nein, er hatte im Mittelpunkt der Aufführung gestanden und die meiste Aufmerksamkeit erhalten. Auch meine Mutter war ja Zeugin dieses für mich so wichtigen Ereignisses. Ihre Anwesenheit allerdings nahm ich gar nicht wahr, denn sie bedeutete mir nicht besonders viel. Beweisen wollte ich mich vor allem vor meinem Vater.

Etwas war geschehen, etwas außerordentlich Großes – das fühlte ich genau, etwas, das nun nicht mehr rückgängig gemacht werden konnte. Ich witterte die Chance, meine eigene Bedeutungslosigkeit zu überwinden, die ich so lange gefühlt hatte: Sie lag in der Luft und war zum Greifen nah, die alles entscheidende Chance, die mein Leben verändern würde. Zum allerersten Mal hatte ich Bestätigung erfahren und sah mich selber als einen Menschen, der ein Recht darauf hatte, wahrgenommen zu werden. Von solcherlei hehren Gedanken beflügelt, erwachte ein mir bis dato völlig unbekannter Ehrgeiz in mir und ich beschloss, meinen von meinem Talent überzeugten Förderer dazu zu überreden, uns als Nächstes den »Hamlet« von Shakespeare vorzunehmen, selbstredend mit mir als Hauptdarsteller … Herr Oettermann staunte nicht schlecht über den kühnen Vorschlag seines wild entschlossenen Zöglings und stimmte begeistert zu.

Ganz ohne dramaturgische Beratung – als sei es das Selbstverständlichste von der Welt – fertigte ich im zarten Alter von 18 Jahren eine eigene Strichfassung dieses wahrlich nicht einfachen Stückes an. Ich sehe mich noch im Liegestuhl auf dem Rasen im Hof unserer Mietwohnung in Wilhelmshöhe sitzen, mit Shakespeares Meisterwerk auf meinen Knien, in dem ich so lange herumstrich, bis ich es für spielbar hielt. Alles kam mir einfach und schlüssig vor, denn alle Fragen, die sich mir stellten, beantwortete ja der Text. Ich hatte nicht den geringsten Zweifel an meinen Strichen und auch keinerlei Bedenken, dass mich das Projekt eventuell überfordern könnte. Bei meinem Talent – so dachte ich wohl – war ein Scheitern ja völlig ausgeschlossen.

Auf den anschließenden Proben spielte ich unbekümmert drauflos und alles entwickelte sich fast wie von selbst. So hatte ich mich noch nie erlebt: stark, selbstbewusst und nahezu unbesiegbar.

Auch »Hamlet« wurde zu einem Triumph für mich. Ich hatte mich dieser berühmtesten aller Rollen gestellt und verkörperte sie am Abend der Premiere in einem nie erlebten innerlichen Ausnahmezustand. Alles schien mir zu gelingen, und nichts stand mir im Weg. Mitten in einem der zahlreichen Monologe kam es zu einem Schlüsselerlebnis für mich. Während ich den Text rezitierte, wurde mir plötzlich bewusst, dass mir 600 Menschen zuhörten. Aufmerksam zuhörten! Mir! Ich vernahm kein Geräusch im Saal, kein Hüsteln, nichts. Ein überwältigender Gedanke durchströmte mich gleich einer Offenbarung: Ich bin wichtig! Ich existiere! Ich habe meinen Platz im Leben gefunden! Das Theaterspielen sollte und musste nun unbedingt ab sofort zu meinem Lebensinhalt werden. Lieber heute als morgen. Ich wollte raus aus der Schule, raus aus Kassel, raus aus diesem langweiligen Provinznest – ich wollte, nein ich musste Schauspieler werden.

Mein Vater war fassungslos, nachdem ich ihm mitgeteilt hatte, dass ich entschlossen sei, die Schule abzubrechen, um Schauspielerei zu studieren. Mein Entschluss überforderte ihn, denn ich hatte ihn mit einem Selbstbewusstsein vorgetragen, dem er offenbar nicht gewachsen war. Und weil ihm das Ganze grundsätzlich nicht geheuer war, missfiel es ihm über alle Maßen. Er war als Zuschauer dabei gewesen, wie ich sowohl als Prinz von Homburg wie auch als Hamlet auf der Bühne gestanden hatte und beide Male gefeiert worden war – trotzdem konnte er sich mit meinem, seiner Meinung nach völlig abwegigen Wunsch nicht anfreunden. Und meine Mutter? Sie versetzte mein in ihren Augen völlig wahnwitziger, verantwortungsloser Plan in blanke Hysterie. Immer wieder brach sie in Tränen aus und wollte sich gar nicht mehr beruhigen. Schauspieler galten bei uns im Hause als Hungerleider, als Existenzen, deren Leben von vorneherein zum Scheitern verurteilt war. Also kam es für meine Eltern überhaupt nicht in Frage, diesen in ihren Augen hochgradig riskanten Beruf für mich auch nur im Entferntesten in Erwägung zu ziehen – einen Beruf, der aus mir einen obdachlosen Sozialhilfeempfänger machen würde.

Das also war die Ausgangslage, kurz bevor ich mein Elternhaus endgültig hinter mir ließ …

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