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Selbstermächtigung statt Opferkultur

Dass insbesondere Minderheiten vor Diskriminierung zu schützen sind, gilt weitestgehend als Konsens in unserer Gesellschaft. Die sogenannte Identitätspolitik, die sich diesem Ziel verschrieben hat, stößt jedoch immer wieder auf Widerstand, auch aus dem progressiven Lager. Nicht wenigen gilt sie gar als ungeeignet, ihre selbstgesteckten Ziele zu erreichen. Warum ist das so? Anschaulich und verständlich erklärt der Psychologe Bernhard Hommel in seinem Buch „Gut gemeint ist nicht gerecht“ die aktuellen Diskussionen über soziale Gerechtigkeit, Diskriminierung, Rassismus, Gendern oder fluides Geschlecht. Hommel befürwortet in all diesen Fragen zwar die Ziele, hinterfragt aus psychologischer Sicht aber die Sinnhaftigkeit der Wege, die derzeit diskutiert und beschritten werden, um diese zu erreichen. Wie schaffen wir es, die Menschen auf dem Weg zu einer wirklich gerechteren Gesellschaft mitzunehmen und nicht unterwegs aufgrund zu starker Polarisierung zu verlieren?

Identitätspolitische Konzepte gesellschaftlicher Therapien beruhen auf Einer starken Asymmetrie zwischen den Opfern von Diskriminierung und den vermeintlichen oder tatsächlichen Tätern bzw. den nicht-diskriminierten Teilen der jeweiligen Gesellschaft. Diese asymmetrische Rollenverteilung ist nicht nur die Grundlage der vorgeschlagenen therapeutischen Überlegungen, sondern sie bleibt auch während der gesamten Therapie erhalten. Es sind ausnahmslos die nicht-diskriminierten Teile der Gesellschaft, von denen konkretes Handeln erwartet wird, während die Opfer im Wortsinne teilnahmslos der Herstellung sozialer Gerechtigkeit harren. Alternativen sind allerdings denkbar und werden gelegentlich in die Diskussion geworfen, wie etwa von der Philosophin Svenja Flaßpöhler. Die Grundidee ist die der Selbstermächtigung, und die bereits genannte Sendung »Hart aber fair« vom 5.10.2020 gab ein gutes praktisches Beispiel dafür, wie sie funktioniert. Die Diskussion drehte sich um die Frage, ob man bestimmte Begriffe, wie die des »Mohren«, aus unserer Sprache verbannen sollte. Zwei Aktivisten hielten ein umfassendes Plädoyer für die Verbannung, unter ihnen Stefanie Lohaus. Der Trick des Moderators Plasberg bestand nun darin, im Verlauf dieser Diskussion den afrodeutschen Koch und Restaurantbesitzer Andrew Onuegbu vorzustellen, der in Norddeutschland sein eigenes Restaurant unter dem Namen »Zum Mohrenkopf« eröffnet hatte. Angesprochen auf die Frage, warum Onuegbu den Begriff des Mohren überhaupt nicht rassistisch findet, antwortete dieser, dass er zwar über die rassistischen Kontexte, in denen dieser Begriff verwendet wurde, Bescheid wisse, dass er sich aber die Bedeutung des Wortes nicht von diesen Kontexten diktieren lasse. Er und seine afrodeutschen Freunde seien gewillt, sich dieses Begriffes zu ermächtigen und für ihre Zwecke und vor allem in ihrem Sinne zu nutzen. Diese Strategie benutzt die bereits erörterte Eigenheit von Sprache, von der tatsächlichen Verwendung eines Wortes von bestimmten Personen mit einer bestimmten Intention und in einem bestimmten Zusammenhang abhängig zu sein. Genauso, wie man vollständig neue Symbole oder Wörter durch die gemeinsame Verwendung selbstständig mit Bedeutung ausstatten kann, kann man dies natürlich auch mit bereits existierenden Wörtern tun – »Bock« war eines meiner Beispiele dafür. Andere Beispiele sind die Art und Weise, wie sich berufstätige Frauen in der DDR des generischen Maskulinums bei der Beschreibung ihrer Berufe ermächtigt haben oder wie es homosexuell orientierten Männern gelungen ist, den Begriff »schwul« von einer Beschimpfung in ein positiv besetztes Prädikat zu transformieren.

Selbstermächtigung ist aber nicht nur auf die Sprache beschränkt. Wie Flaßpöhler in einem längeren Gespräch mit dem Philosophen Richard David Precht über das Thema »Die Zukunft von Mann und Frau« im ZDF erläuterte, wäre es auch gesellschaftlich wünschenswert, wenn Zielscheiben von Diskriminierung rustikaler und schlagfertiger mit entsprechenden Anfeindungen umgingen – jedenfalls so lange keine körperliche Gewalt im Spiel ist. Die Reaktion von Jimmy Hartwig, dem geschmähten HSV-Spieler, war hierfür ein gutes Beispiel: Er ging auf die grölenden Fans der Gegenpartei zu und dirigierte ihre beleidigenden Gesänge. Auch der Vorschlag von Nguyen-Kim, bei Fragen nach der Herkunft zunächst einmal interessiert und forschend zu reagieren, um die tatsächlichen Intentionen der Fragenden bloßzulegen, ist ein Beispiel für Selbstermächtigung. Der Vorteil dieses Vorgehens besteht zunächst einmal in der öffentlichen Markierung der diskriminierenden Handlung, die anderenfalls unter Umständen unsichtbar bliebe. Diese Markierung erlaubt es möglichen Umstehenden, gegebenenfalls unterstützend einzugreifen und so den gesellschaftlichen Konsens für sowohl Opfer als auch Täter deutlich zu machen. Ein mehr interaktiver Umgang mit als diskriminierend erlebtem Verhalten erlaubt es aber auch, nur vermeintliche Diskriminierung von tatsächlicher Diskriminierung zu unterscheiden. Denn Diskriminierung setzt eine gewisse Differenz zwischen Opfer und Täter voraus, zumindest hinsichtlich des Merkmals, auf das sich die Diskriminierung bezieht, wie etwa deren Hautfarbe. Diese Differenz wird aber in nicht wenigen Fällen auch von anderen Merkmalen begleitet sein, wie etwa bezüglich des kulturellen Hintergrundes oder der religiösen Überzeugung. Es ist daher nicht auszuschließen, dass diese Differenzen kommunikative Missverständnisse erzeugen, die ohne eine interaktive Auseinandersetzung zwischen den Betroffenen fälschlich als Diskriminierung gedeutet werden, wie in einigen von Nguyen-Kim besprochenen Beispielen.

Aus dieser Sicht ist die Strategie der Selbstermächtigung auch eine Variante der bereits besprochenen Fehlerkultur. Ohne eine derartige Fehlerkultur bleibt den von Diskriminierung betroffenen Personen lediglich eine passive Opferrolle, aus der sich diese Personen zwar beklagen und gesellschaftliche Lösungen anmahnen können, ohne aber letztlich irgendwelche konkreten pädagogischen Effekte zu zeitigen. Denn die öffentliche Brandmarkung von Verhalten als unpassend und unethisch oder rassistisch wird eher zu einer abwehrenden Haltung der Urheber dieses Verhaltens führen als zu einer Vertiefung von Verständnis und Einsicht. Das selbstermächtigte Opfer eventueller Diskriminierung hat hier deutlich mehr pädagogische Möglichkeiten. Zunächst einmal hat es die Gelegenheit, in der direkten Auseinandersetzung mit dem vermeintlichen Täter herauszufinden, ob es sich um eine willentliche Beleidigung, einen unabsichtlichen Fehlgriff oder ein bloßes Missverständnis handelt. Im Falle einer willentlichen Beleidigung wäre es möglich, die nötige Motivation und Toleranz vorausgesetzt, den eigentlichen Grund dafür festzustellen und offen darüber zu reden. Im Falle eines unabsichtlichen Fehlgriffs ergäbe die direkte Auseinandersetzung die Chance für ein tieferes gegenseitiges Verständnis auf beiden Seiten und eine wichtige Lernerfahrung aufseiten des vermeintlichen Täters. Selbst ein bloßes Missverständnis kann lehrreich sein, in dem es die gegenseitigen Sinne dafür schärft, wie andere Menschen sich auszudrücken pflegen und was genau sie damit meinen. Gerade in einer diversen Gesellschaft wie der unseren sind diese Lernerfahrungen von essenzieller Bedeutung. Kurzum, je weniger hoch wir die Dinge bei aller inhaltlichen Klarheit hängen, je mehr Toleranz wir füreinander aufbringen, desto mehr können wir alle voneinander lernen.

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