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Wir Kriegsenkel

Wie die Vergangenheit ihrer Eltern und Großeltern die Babyboomer prägt – und was das für die aktuelle Diskussion über Krieg bedeuten kann. Ein Kommentar von Sebastian Schoepp.

Kriegsenkel, so nennt man Menschen, die keinen Krieg am eigenen Leibe erlebt haben, aber dessen seelische Nachwirkungen in sich tragen – oft, ohne es zu wissen. Sie haben die Traumata, die ihre Eltern und Großeltern auf der Flucht, im Bombenhagel oder an der Front durchgemacht haben, gewissermaßen in sich aufgenommen – durch Prägung, oder sogar durch genetische Vererbung, wie wissenschaftliche Studien neuerdings behaupten.

„Maligne Introjekte“ nennt das die Psychiaterin Luise Reddemann, bösartige Einsprengsel aus einer gar nicht selbst erlebten Vergangenheit, die aus dem Unterbewusstsein heraus Verhalten und Weltempfinden beeinflussen können. Man spricht in solchen Fällen im Fachjargon von „transgenerationaler Trauma-Weitergabe“, die vor allem in einem von Krieg geprägten Land wie Deutschland sozialpsychologisch eine große Rolle spielen kann.

Leben mit angezogener Handbremse

Kriegsenkel wurden zwischen 1960 und 1980 geboren. In Ihnen lebt die mangelnde positive Zukunftserwartung früherer Generationen fort. Oft sind es Menschen, die mit Glaubenssätzen wie „Freu dich nicht zu früh“, „Stell dich nicht so an“ oder „Der Klügere gibt nach“ aufgewachsen sind. Sie führen dann ein Leben mit angezogener Handbremse, voller Zurückhaltung, die schon an Depression grenzt, ein gedämpftes Dasein, das eher abgelebt als genossen wird – stets in Erwartung irgendeines Unglückes, eines Missgeschicks oder einer Katastrophe, das alles Aufgebaute zerstört und alle Lebensträume beerdigt – so wie es im Zweiten Weltkrieg der Fall war.

In den meisten Familien wurde darüber nicht gesprochen, es herrschte die sprichwörtliche Sprachlosigkeit der deutschen Nachkriegszeit. Deshalb haben viele Kriegsenkel nicht die geringste Ahnung, welche Introjekte es sind, die sie plagen.

Doch immer mehr machen sich auf die Suche nach dem Urgrund für die eigene Verstörtheit. Der Hamburger Verein Kriegsenkel e.V. etwa hat in den vergangenen Jahren mächtig Zulauf gewonnen, Veranstaltungen sind ausgebucht. Ist dieses wachsende Interesse nicht eigentlich seltsam, jetzt, da die meisten Zeitzeugen verstorben sind? Gar nicht, sagt der Coach Sven Rohde vom Kriegsenkel e.V., der seit Jahren Seminare zum Thema hält, im Gegenteil: „Da geht ein Deckel auf.“ Dinge, die die Familienloyalität jahrzehntelang unter der Decke hielt, brechen plötzlich auf. Kriegsenkel fragen sich, warum die Eltern oder Großeltern außer ein paar oberflächlichen Anekdoten nie etwas erzählt haben – und warum sie sich selbst nie getraut haben, Fragen nach der Vergangenheit zu stellen. Es ist letztlich die Suche nach dem eigenen Ich, das neue Dynamik gewinnt, jetzt, da die Boomer, die die Kriegsenkel ja gleichzeitig sind, ins Bilanzalter kommen.

Seht zu wie ihr zurechtkommt!

In meinem Buch „Seht zu wie ihr zurechtkommt“, das nun als Taschenbuch beim Westend Verlag erscheint, habe ich 2018 versucht, Meine Eltern im Nachhinein zu verstehen. Ich bin Jahrgang 1964 und deshalb ein Kriegsenkel; zugleich aber ein Kriegskind, denn es waren meine Eltern, die noch direkt als junge Erwachsene am Zweiten Weltkrieg teilnehmen mussten, mein Vater (Jahrgang 1923) als Soldat an der Ostfront, meine Mutter (Jahrgang 1925) als Arbeiterin in der Rüstungsindustrie. Der Titel des Buches leitet sich aus einem Glaubenssatz meiner Mutter ab – eben, dass man „zusehen muss, wie man zurechtkommt“.

Diesen Satz hat sie immer wieder zu sich selbst gesagt, etwa, als sie 1945 vor der anrückenden Roten Armee aus Gotenhafen fliehen musste. Gleichzeitig drückt der Satz das Gefühl aus, das einen als beruflich gestresster und vom Alltag restlos vertakteter Sohn überkommt, wenn man in Deutschland Pflege organisieren muss.

Oft bedarf es solch einschneidender Momente, damit die Kriegsenkel-Problematik an die Oberfläche gelangt, Lebenskrisen in den mittleren Jahren etwa, oder eben, wenn man die alten Eltern pflegen muss und plötzlich der Krieg mit am Bettrand sitzt; oder man sich fragt, woher nur diese rätselhafte emotionale Distanz rührt, die einen ein Leben lang von den Erzeugern getrennt hat und die liebevolle Zuwendung im Alter so schwer macht – so wie sich einst die traumatisierten oder emotional verschlossenen Eltern schwer getan hatten, dem Kind die liebevolle Zuwendung zu geben, die es gebraucht hätte.

Jugend in eine mentale Kapsel eingeschlossen

Es ging mir in dem Buch einerseits darum, die lebensverändernde Pflegezeit aufzuarbeiten – und gleichzeitig eine Antwort auf die Frage zu finden, wer meine Eltern eigentlich waren. Ich habe ihnen dafür posthum sozusagen nachspioniert, beim Wehrmachtsarchiv, beim Roten Kreuz, in Familiendokumenten und habe mir daraus und aus ihren spärlichen Erzählungen ein Bild zusammengesetzt, das ihr für mich oft widersprüchliches Verhalten besser verstehen lässt.

Beide waren im Krieg nur knapp dem Tode entronnen. Was hatte das mit ihnen gemacht, und was machte das mit mir? Heraus kam das Bild von Menschen, die ihre Jugend in eine mentale Kapsel eingeschlossen hatten, in deren Unterbewusstsein Erinnerung gewütet haben mussten, von denen ich mir keine Vorstellung machte. Die Auseinandersetzung damit hat mir sehr geholfen, weil ich die Urgründe bestimmter eigener Lebenshemmnisse klarer benennen konnte.

Eigentlich hatte ich gedacht, dass diese Geschichte damit zwischen zwei Buchdeckeln abgelegt wäre – doch der Überfall Russlands auf die Ukraine hat alles noch einmal mit Wucht zu Tage gefördert. Auch da bin ich keineswegs der Einzige: Der Krieg habe bei vielen Kriegsenkel einen „emotionalen Aufruhr“ ausgelöst, wie Sven Rohde sagt. Nach dem Überfall Russlands auf das Nachbarland „haben sie sich persönlich wie überfallen gefühlt“. Sie hätten den Zweiten Weltkrieg zwar nicht selbst erlebt, „aber das Gefühl, ganz persönlich in einen Krieg zurückgeworfen zu werden.“

Konnte es vor diesem Hintergrund richtig sein, wieder Angriffswaffen in die Ukraine zu liefern?

Auch ich habe mir noch einmal die Feldpostbriefe Vaters aus der Ukraine von 1944 herausgesucht, zum Teil geschrieben auf Ansichtskarten mit deutscher Artillerie, die ins Feindesgebiet feuert. Ich fragte mich vor allem: Konnte es vor diesem Hintergrund richtig sein, wieder Angriffswaffen in die Ukraine zu liefern? Hatte die russische Paranoia vor fremder Einmischung in ihrer unmittelbaren Nachbarschaft nicht viel damit zu tun, dass die Wehrmacht – in ihren Kolonnen mein eigener Vater – vor nicht allzu langer Zeit dort war, um Eisen und Stahl zu säen? Und was hat das eine mit dem anderen zu tun?

Ebenfalls frage ich mich, wie ich zu meiner Einstellung gelangt bin, denn die Ablehnung von Krieg und Waffenlieferungen ist keineswegs einhellig bei Kriegsenkeln. Die Generation der Boomer ist in dieser Frage nicht weniger gespalten, als der Rest der Bevölkerung. Ja, viele ehemalige Kriegsdienstverweigerer scheinen nun als Mittfünfziger plötzlich den Rekruten in sich zu entdecken. Warum ist das bei mir anders? Wie kommt man zu seiner Haltung?

Mir geht es dann wie Sigmund Freud, der 1915, nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs schrieb: „Von dem Wirbel dieser Kriegszeit gepackt, einseitig unterrichtet, ohne Distanz von den großen Veränderungen, die sich bereits vollzogen haben oder zu vollziehen beginnen, und ohne Witterung der sich gestaltenden Zukunft, werden wir selbst irre an der Bedeutung der Eindrücke, die sich uns aufdrängen, und an dem Werte der Urteile, die wir bilden.“

Vielleicht lag es an meinem Vater, ich denke dann daran, wie alle Forschheit von ihm abfiel, wenn ich mit ihm Cowboy und Indianer spielen wollte. Dann legte er die Plastikpistole nach wenigen Sekunden aus der Hand und sagte mit verschleiertem Blick: „Ick kann das nich…“

Die letzte Kugel

Ich glaube, es war Vaters verstörter Blick, der mich zum Gesinnungspazifisten gemacht hat. Dabei wusste ich, genau genommen, überhaupt nichts von meinem Vater. Erst die Demenz kurz vor seinem Tod zerriss den Schleier, den er sich selbst auferlegt hatte. Dann erzählte er, wie er vor seiner Gefangenschaft in der Ukraine die letzte Kugel für sich selbst aufgehoben hatte, dann aber nicht den Mut hatte abzudrücken. Vielleicht mag ich deshalb keine Waffen?

Manche Kriegsenkel scheinen geradezu gefangen zu sein in einem inneren Hin- und Her, das die inneren Konflikte ihrer Vorfahren widerspiegeln könnte – von denen sich viele ja nicht sicher waren, ob sie sich selbst als Opfer oder Täter betrachten sollten. Eine innere Ambivalenz in Geschichtsfragen könnte auch die deutsche Außenministerin kürzlich gelenkt haben, als sie einerseits – ganz kriegsenkelhaft – öffentlich an die Mahnung ihres Wehrmachtsgroßvaters erinnerte, bloß ja nie wieder einen Krieg anzuzetteln. Um nicht lange danach so aufzutreten, als sei ein neuer Krieg gegen Russland bereits die von ihr so empfundene – und gewollte – Realität.

Rufe vom Totenbett

Aber muss man nicht reagieren, wenn ein Nachbar überfallen wird, muss man nicht helfen? – das werde ich bei Diskussionen oft gefragt. Vielleicht ist das meine Art von Kriegsenkelhaftigkeit, dass ich nicht glaube, dass man Aggression mit Gegenaggression beantworten kann. Wahrscheinlich liegt meine Skepsis im Erbe der Gewalt begründet, die meine Vorfahren ausübten und die sie erleiden mussten.

Meine beiden Großväter haben im Ersten Weltkrieg gekämpft, mein Vater im Zweiten. Meine Mutter hat die Bombardements Berlins übererlebt. Meine Tante war in Berlin 1945 tagelang von sowjetischen Frontsoldaten vergewaltigt worden. Ich hatte eigentlich gehofft, als erster in Generationen dieser Familie ohne Krieg auskommen zu können. Ist es so erstaunlich, dass ich es für eine immer wiederkehrende deutsche Hybris halte, sich mit den Russen anlegen zu wollen?

Wie Slavoj Zizek kann ich überdies an eine westliche moralische Überlegenheit nicht recht glauben – und schon gar nicht an eine deutsche. Ich halte es mit dem australischen Weltkriegshistoriker Christopher Clark, der gleich nach Beginn des Konflikts in einem Interview forderte, einen kühlen Kopf zu bewahren. Ich denke dann an jene Menschen, die in Ost und West in der Nachkriegszeit am Drücker saßen, und darauf verzichteten, ihn zu betätigen, weil sie noch wussten, was Krieg bedeutet. Diese Generation ist nun abgetreten und scheint uns vom Totenbett aus nachzurufen: „Nun seht mal zu, wie ihr zurechtkommt.“ Ich habe nicht den Eindruck, dass uns das besonders gut gelingt.

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