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Privatisierung – Zeitenwenden brauchen Mehrheiten

Bedeutet Privatisierung Optimierung oder Entmenschlichung? Zwei diametrale Positionen zu einer der wichtigsten Fragen der Gegenwart: Wolfgang Kubicki, stellvertretender Bundesvorsitzender der FDP, ist davon überzeugt, dass Privatisierung ökonomische Höchstleistung hervorbringt und der Markt am besten weiß, wie er sich – und damit unser aller Wohlstand – erhält und außerdem durch ein Zurückdrangen des Staates für mehr Bürgernähe sorgt. Der Sozialwissenschaftler Tim Engartner warnt hingegen vor den Gefahren der Privatisierung, das die ausschließliche Konzentration auf Profit unweigerlich dazu führt, dass soziale Fragen ausgeklammert und der staatlichen Kontrolle entzogen werden, weshalb sich der Neoliberalismus bis in die letzten Winkel unseres Lebens ausbreiten kann. Ein Beitrag von Tim Engartner, auf den Wolfgang Kubicki kommenden Sonntag antwortet.

Damit sich dem Trend zur »Vermarktlichung« eine breite Öffentlichkeit entgegenstellt, braucht es ein umfassendes Bewusstsein in der Bevölkerung dafür, Dass uns die Politik der Entstaatlichung zum Nachteil gereicht. Diese Einsicht wird sich nicht von allein durchsetzen, wie Jens Jessen schon 2011 konstatierte: »Es scheint nur unendlich schwer – und das zeigt den Erfolg der marktliberalen Gehirnwäsche –, das Mäntelchen hinwegzuziehen und uns von dem Gedanken zu befreien, dass die Ökonomie, so wie sie ist, unser Schicksal sei […]. All die Wirtschaftsprofessoren und Wirtschaftsjournalisten, […] mehr noch die Unternehmensberater, die nach den Firmen auch die Schulen, die Universitäten, die Theater, den Sport, alle Lebensbereiche dem Gesetz der Rentabilität unterworfen haben oder höchstens noch als Zuliefererbetriebe für die Zwecke der Wirtschaft alimentieren wollen, haben an der großen Umerziehung mitgewirkt, die uns einhämmert, dass es nur einen letzten Wert gebe: den des Profits.«45

Dabei hat die Ausstattung von Schulen mit digitalen Endgeräten im Zuge der Coronapandemie gezeigt, dass sich Bildung in der von der ehemaligen Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) proklamierten »Bildungsrepublik« schon jetzt nicht mehr jeder leisten kann. Gleichzeitig wächst die Zahl der privaten und damit gebührenpflichtigen Kindertagesstätten, (Hoch-)Schulen und Nachhilfeinstitute weiter. Und die mit der Privatisierung der Bundesdruckerei einhergegangene Preisexplosion bei der Ausstellung von Personalausweisen, Reisepässen und Führerscheinen sorgt zwar regelmäßig für Unmut, aber statt auf die Privatisierungspolitik zu schimpfen, verteufeln wir die träge Verwaltung. Und die Wehklagen über das »Unterschichtenfernsehen« von RTL, RTL II und SAT.1 wären hinfällig, wenn die zu Beginn der 1980er Jahre vom Bertelsmann-Konzern mit der unionsgeführten Bundesregierung vorangetriebene Privatisierung des Rundfunks unterblieben wäre.

Fraglos ist eine »Marktgesellschaft«, die von Ökonomisierungs-, Kommerzialisierungs-, Deregulierungs- und Privatisierungstendenzen gekennzeichnet ist, zugleich maßgeblicher Treiber sozialer Ungleichheiten: »Die sozioökonomische Ungleichheit als Hauptursache von Benachteiligungen […] wird relativiert, wenn man so tut, als erwüchsen Praktiken der Diskriminierung wegen des Geschlechts, der sexuellen Orientierung oder der ethnischen Herkunft Einer bestimmten Personengruppe nicht letzten Endes aus einer bestimmten Wirtschafts- und Gesellschaftsstruktur.« Die auf den Markt als alleinigen gesellschaftlichen Regulierungsmechanismus fixierte Ökonomie findet nicht nur in einschlägigen Gazetten seit Jahren Verbreitung, sondern lässt uns überdies vergessen, dass die soziale Spaltung der Gesellschaft ihren Ursprung in einer Wirtschafts- und Sozialordnung hat, die den Interessengegensatz zwischen Kapital und Arbeit perpetuiert. Dies lässt sich insbesondere an einem Steuersystem ablesen, das Kapital privilegiert und Arbeit diskriminiert – und das damit dem Leistungsgedanken entspringende Aufstiegsversprechen der »alten Bundesrepublik« systematisch unterläuft. Hinzu kommt, dass dem globalen Finanzmarktkapitalismus eine ungleichheitsverstärkende Dynamik innewohnt. Die privaten Vermögen wachsen, sodass die Suche nach rentablen Anlagemöglichkeiten der (Hyper-)Vermögenden intensiviert und der Privatisierungsdruck auf öffentliche Güter und Dienstleistungen erhöht wird. Wenn Lobbyistinnen und Lobbyisten wie die vom Arbeitgeberverband Gesamtmetall finanzierte INSM darauf drängen, die vermeintlich zu hohen Lohnnebenkosten zu senken, indem die Rente privatisiert wird, muss man auf die desaströsen US-amerikanischen, japanischen und norwegischen Erfahrungen verweisen.

Dass das auf dem Leitbild der Leistungsgesellschaft fußende Aufstiegsversprechen der »Alten Bundesrepublik« Tag für Tag unterlaufen wird, ist einer der wesentlichen Gründe für die sich verbreitende und verfestigende Polarisierung unserer Gesellschaft. In keinem EU-Staat ist die Vermögensungleichheit größer als in Deutschland. In den vergangenen Jahren und Jahrzehnten wurden zu viele Gewinne privatisiert und zu viele Verluste sozialisiert. Die nicht leistungsgerechte Konzentration hoher Vermögen ist jedoch nicht die einzige negative Auswirkung der Privatisierungspolitik. Soll unsere Gesellschaft nicht weiterhin von einer auf Ellenbogenmentalität fußenden Individualisierung geprägt sein, in der jeder und jede allein seines bzw. ihres eigenen Glückes Schmied ist, muss die »Verbetriebswirtschaftlichung« der öffentlichen Daseinsvorsorge dringend ein Ende finden. Zentrale Bereiche der öffentlichen Daseinsvorsorge werden nur dann reaktiviert werden können, wenn es zu einem Politik- und nicht allein zu einem Regierungswechsel kommt. Stellen wir uns also vor, es gäbe eine Mehrheit für Kreditaufnahmen und Bund-Länder-Bonds zur Finanzierung von Investitionen in die öffentliche Daseinsvorsorge. Imaginieren wir ferner, dass die staatlichen Hilfsmaßnahmen in der Coronakrise eine dauerhafte Abkehr vom neoliberalen Zeitgeist eingeläutet haben und die gravierende Störung des Wirtschaftssystems die Rückkehr zur blinden Marktgläubigkeit versperrt, dann ist zu hoffen, dass die viel beschworene Renaissance des Staates Platz greift. Dies gilt erst recht, als die historisch niedrigen Kreditzinsen auch dem Staat beachtliche Investitionsmöglichkeiten eröffnen.

Wenn diejenigen, die sich sorgen – sei es um ihre Sportstätten und Kultureinrichtungen vor Ort, um das berufliche Schicksal der Paketbotinnen und -boten an ihrer Haustür, um ihre Gesundheitsversorgung in der Praxis oder im Krankenhaus, um ihre Rente oder um die Bildung ihrer (Enkel-)Kinder –, demnächst ihre Privatisierungskritik artikulieren, dürfte sich in der breiteren Öffentlichkeit ein Stimmungswandel Bahn brechen. Denn längst trifft der Verkauf öffentlichen Eigentums nicht mehr nur Personenkreise ohne politische Lobby, die für eine boomende Wirtschaft nur von geringer Bedeutung sind oder eine heterogene Wählerschaft bilden (zum Beispiel Schülerinnen und Schüler sowie Studierende, Erwerbslose, einkommensschwache Familien oder Menschen mit Behinderungen). Wir alle müssen uns vergegenwärtigen, dass sich die Stärke einer Gesellschaft am Wohl Der Schwachen bemisst. Das Wohl der Schwachen aber kann nur bewahrt werden, wenn (über-)le­benswichtige Güter und Dienstleistungen allen Menschen zur Verfügung stehen. Vor diesem Hintergrund sollten wir alle wachsam sein, wenn die Gewinn- an die Stelle der Gemeinwohlorientierung tritt – jedenfalls dann, wenn wir nicht in einer Gesellschaft leben wollen, die von allem den Preis, aber von nichts mehr den Wert kennt.

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