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Merkwürdige Zeiten

Eine Weihnachtsgeschichte getragen von … der unstillbaren Sehnsucht, dass die Menschen aus ihrer Geschichte endlich mal was lernen.

Seit über 30 Jahren lebe ich in Hamburg, und in der Vergangenheit war es so: Drei, vier Wochen vor Weihnachten tauchten bei den gegenüberliegenden Wohnungen und Häusern Lichterketten auf; aus den Lichterketten wurden im Laufe der Zeit immer größere Lichterteppiche, plötzlich leuchteten auch Rentiere von den Balkonen, am Anfang ohne Schlitten, dann mit, immer mehr Licht erhellte die Nächte, und irgendwann versuchten auch noch ziemlich große Plastik(!)-Nikoläuse (oder heißt es: Nikolause?) über Balkone oder Bäume in die Wohnungen einzudringen.

Und dieses Jahr? Nur eine mikrige Lichterkette glüht vom gegenüberliegenden Balkon herüber – und das auch nur an den Wochenenden. Weihnachtszeit in den Tagen von „Zeitenwende“ (Olaf Scholz), „Epochenbruch (Frank-Walter Steinmeier) – ist es eine Vorkriegsweihnachtszeit? Neulich heulten ja die Sirenen, zur Probe; und haben nicht Heizungs-Habeck und Waschlappen-Kretschmann empfohlen ein bisschen auf den gewohnten Komfort zu verzichten, stattdessen für die „Winterhilfe“ – ein Wort, das mich an eine Vergangenheit erinnert, von der ich stets hoffte, dass sie für immer vergangen ist – zu spenden? Und im Deutschlandfunk (DLF) erfahre ich plötzlich, wie ich Obst, Gemüse eindünste, einwecke, einfriere; lerne ich, was ich mir an Vorräten für den „Krisenfall“ anschaffen soll; höre ich in den DLF-„Verbrauchertipps“, was besser im Falle eines Stromausfalles ist: ein Handkurbelradio oder ein solar betriebenes Radio? Irgendwie irre, das alles.

Rückblende in Meine Jugendzeit, Schwäbische Alb, in einem Haus, im zweiten Stock drei aufgeregte Kinder: Mein Bruder, meine Schwester und ich stehen auf der obersten Stufe einer Treppe, festlich angezogen, und wir warteten sehnsüchtig auf das Klingeln meiner Mutter, dass wir jetzt endlich in das Weihnachtszimmer mit dem Lametta-überzogenen Christbaum kommen durften. „Vom-Himmel-hoch“-singend stiegen wir feierlich die Treppe runter, im Grunde aber nur hoffend, dass diesmal die Weihnachtsgeschenke üppig ausfallen würden. Und es nicht bloß wieder selbstgestrickte und gehäkelte Pullover, Strümpfe, so unnötiges Zeugs eben geben würde.

Es ist in den 50ern, frühen 60ern des vergangenen Jahrhunderts noch Nachkriegszeit. An Weihnachten Sind in vielen Häusern in den Fenstern Kerzen aufgestellt für die Vertriebenen, Verschollenen, Vermissten. Und beim Metzger Vogel verlangen die Menschen fast gierig nach den besonders fetten Stücken vom Schwein. In meiner Erinnerung sehe ich nur hagere Menschen, ich sehe auch viele Krüppel, Verletzte, Verstümmelte, und in jedem Zugwaggon verlangt ein kleines Schildchen, diesen Platz für Kriegsversehrte freizumachen. Wenn das Wetter sich ändert, schreit mein Vater vor Schmerz auf: In seinem Rücken, irgendwo, wandert, was ich als Kind nie so richtig verstanden habe, ein Stück von einem Schrapnell.

Es sind diese alltäglichen Erfahrungen, die mich zu einem lebenslänglichen Anti-Militaristen gemacht haben.

Meine Mutter nimmt mich manchmal mit in die Stadt, also nach Heidenheim. Das ist ein Ereignis. Wir sind dann immer einen Tick zu fein angezogen, wir vom Land, wir vom Dorf. Manchmal sagt Meine Mutter dann in der Stadt: „Guck, dieses Kaufhaus hier hieß vor dem Krieg: „Goldbaum“. Diese Firma hier: „Spiegelmann“. Und sie erzählte dann – mit ein paar Sätzen – von der ,Reichskristallnacht‘.“

Eine meiner bewegendsten Kindheitserinnerungen, ich weiß nicht mehr, ob es im Winter 1961 oder 1962 war, es muss Winter gewesen sein, denn draußen war es dunkel, es lag Schnee, meine Mutter liest uns aus dem Buch „Sternkinder“ vor. Der Titel klingt nach Märchenbuch, nach Fröhlichkeit, doch die Sternkinder, von denen in diesem Buch berichtet wird, sind keine Märchenfiguren, sondern, wie es im Vorwort von Erich Kästner heißt, „kleine holländische Mädchen und Jungen mit Hitlers Judenstern auf dem Schulkleid und der Spielschürze. Diese Sternkinder sind so wichtig wie das Tagebuch der Anne Frank. Die Erwachsenen und die Halbwüchsigen müssen es lesen. Da hilft keine Ausrede“.

Plötzlich ist in mir das Bedürfnis, eine ziemlich alte Platte aufzulegen, John Lennons: „Give Peace a Chance“.

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