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Gedanken zum Krieg

Die Entspannungspolitik Willy Brandts ist am Ende, ein neues Zeitalter der Aufrüstung und Eskalation hat begonnen. „Von deutschem Boden darf niemals wieder Krieg ausgehen“, sagte Brandt einst – heute werden weitere Waffenlieferungen in die Ukraine damit begründet, dass deutsche Waffen Menschenleben retten. Wie lässt sich das erklären? Oskar Lafontaine sieht die Gründe dafür auf der anderen Seite des Atlantiks. Weil die Amerikaner es so wollen, kappen wir die Energieversorgung zu Russland, fahren die deutsche Wirtschaft an die Wand und steuern auf eine Eskalation des Ukrainekriegs zu. In seinem Buch analysiert er die deutsche Abhängigkeit von den USA und fordert: Nur eine eigenständige europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik kann den Frieden langfristig sichern. Ein Auszug.

Bereits in der Schule lernten wir, wie wir zum Krieg eingestellt sein sollten. Da hieß es mit den Worten des Dichters Horaz: »Dulce et decorum est pro patria mori.« – »Süß und ehrenvoll ist es, für das Vaterland zu sterben.« Wir sollten darüber einen Aufsatz schreiben. Als ich aufgefordert war, dazu Stellung zu nehmen, erinnerte ich mich an die Geschichte meiner Familie: Mein Onkel, dessen Vornamen mir meine Eltern gaben, ist 1941 200 Kilometer vor Moskau gefallen; mein Vater ist im April 1945, kurz vor dem Ende des Zweiten Weltkrieges, von einem US-Soldaten erschossen worden, als er auf dem Weg zu seiner Familie war. Bei dieser Familiengeschichte war es mir schon als Schüler nicht möglich, diese These des Horaz anzunehmen, dass es süß und ehrenvoll sei für das Vaterland zu sterben. Den Sinn dieses Sterbens konnte ich mir damals nicht erschließen. Und er erschließt sich mir noch immer nicht. Welchen Sinn hatte es, in Hitlers verbrecherischem Krieg sein Leben zu opfern? Der Zweite Weltkrieg führte zu 60 Millionen Toten.

Ich habe daher auch immer Verständnis gehabt für diejenigen, die sich allen Kriegen oder dem Krieg an sich verweigert haben. Damals gab es ein berühmtes Lied von Boris Vian, »Le Déserteur«, welches ich in meiner Jugend gerne gehört habe. Es gab einen französischen Innenminister der Vierten Republik, der dieses Lied während des Algerien-Krieges verboten hatte, sein Name war François Mitterrand. Dennoch bin ich überzeugt, dass dieses Lied viele junge Leute zu Kriegsdienstverweigerern machte.

Ich hatte auch immer eine große Sympathie für Kriegsdienstverweigerer und habe sie auch bis zum heutigen Tage noch. Ein Held meiner Jugend war der ehemalige Boxweltmeister Mohammed Ali, der, als er in den Vietnam-Krieg eingezogen wurde, schlicht und einfach gesagt hat: »Ich gehe da nicht hin, warum soll ich diese Menschen erschießen, sie haben mir nichts getan.«

Der Vietnamkrieg prägte meine Einstellung zum Krieg nachhaltig: die Verbrechen, die dort begangen worden sind, der Einsatz chemischer Waffen, drei Millionen Tote! Damals ging eine ganze Generation auf die Straße, um gegen diesen Krieg zu protestieren! In diesem Zusammenhang drängte sich meiner Generation die Frage auf: Wer will denn eigentlich Krieg? Es ist eine entscheidende Frage, denn ich bin ganz sicher, dass kein sibirischer Bauer mit einem ukrainischen Bauern Krieg führen will – warum sollte er auch? Wir lernten sehr schnell, dass es nicht die Völker der Welt sind, die Krieg wollen, sondern stets eine kleine Minderheit. Das gilt auch heute noch für den Ukrai­ne-Krieg. Es gelingt zwar hin und wieder über die Medien, eine Mehrheit der Bevölkerung für den Krieg aufzustacheln. Man denke zum Beispiel an das August-Ereignis des Ersten Weltkrieges, bei dem die Bevölkerung so aufgeputscht wurde, dass die Mehrheit freudig in den Krieg zog und selbst die Dichter und Denker den Krieg bejahten, Thomas Mann beispielsweise, der vom Krieg als einer »Reinigung« sprach und ihn einen »Ausstieg aus der satten Friedenswelt« nannte, oder Max Weber, der den Krieg »groß und wunderbar« fand und dass es »herrlich« sei, ihn noch zu erleben, aber »sehr bitter«, nicht mehr an die Front zu dürfen. Aber auch die haben nach einiger Zeit das Grauen des Krieges erkannt und anders geredet.

Bei dem Nachdenken über den Krieg stellt sich früher oder später die Systemfrage – eine hochaktuelle Frage und ich muss mich hierzu gar nicht auf irgendwelche Säulenheiligen des linken Spektrums berufen. Ich berufe mich auf Papst Franziskus, der einmal gesagt hat: »Diese Wirtschaft tötet.« Er meinte unsere kapitalistische Wirtschaftsordnung und unsere Wirtschaftsweise mit ihren Eigentumsstrukturen. Ich halte diese Analyse des Papstes für richtig. Ich selbst beantworte die Frage so, dass wir in der Welt mehr und mehr Systeme des Oligarchen-Kapitalismus haben, also Staaten, in denen eine Minderheit große Vermögen anhäuft und die Politik in zunehmendem Maße prägt. Dieser Oligarchen-Kapitalismus führt notwendigerweise zum Krieg.

Ein Kronzeuge dieser Analyse ist der ehemalige Präsident der USA, Dwight D. Eisenhower, der in seiner Abschiedsrede am 17. Januar 1961 vor dem Einfluss des militärisch-industriellen Komplexes in den USA warnte: »Wir in den Institutionen der Regierung müssen uns vor unbefugtem Einfluss – beabsichtigt oder unbeabsichtigt – durch den militärisch-industriellen Komplex schützen. Das Potential für die katastrophale Zunahme fehlgeleiteter Kräfte ist vorhanden und wird weiterhin bestehen. Wir dürfen es nie zulassen, dass die Macht dieser Kombination unsere Freiheiten oder unsere demokratischen Prozesse gefährdet.« Mittlerweile beherrscht der militärisch-industrielle Komplex Senat und Kongress in Washington und sorgt dafür, dass sich die USA ständig im Krieg befinden und zum größten Waffenlieferanten der Welt wurden.

Der französische Sozialist und Pazifist Jean Jaurès sagte einmal: »Der Kapitalismus trägt den Krieg in sich wie die Wolke den Regen.« Ich halte diesen Satz nach wie vor für richtig, habe ihn oft zitiert in vielen Reden und er wurde im Grunde genommen nicht widerlegt. Alle Staaten, die von Oligarchen geprägt werden – das gilt im Osten wie im Westen –, führen Kriege. Wir hatten viele völkerrechtswidrige Kriege, das dürfen wir nicht vergessen. Ich halte es für eine Überlebensfrage, dass wir energisch gegen Kriege vorgehen, aber: Wir müssen mit gleichem Maßstab messen! Überall! Sonst werden wir niemals Frieden auf der Welt erreichen.

Wenn ich heute an diese Verbrechen im Krieg in der Ukraine denke, dann empfinde ich Mitleid und Zorn. Aber ich denke eben auch – und auch da empfinde ich Mitleid und Zorn – an den langjährigen Krieg im Jemen. Ich kann mich nur wundern, dass jetzt darüber nachgedacht wird, Energie nicht etwa von Russland zu beziehen – Russland wird Putin überleben und dann immer noch unser Nachbar sein –, sondern dass man jetzt von den Golfstaaten Energie beziehen will, die diesen verbrecherischen Krieg seit Jahren mit Unterstützung der USA führen. Über 300.000 Menschen sind dort bereits ums Leben gekommen, darunter 80.000 Kinder. Die Vereinten Nationen weisen regelmäßig darauf hin, in welch schlimmen Verhältnissen Millionen Menschen im Jemen leben. Wenn ich an diesen Krieg denke, dann frage ich mich: Warum muss das sein, warum lernt die Welt nicht dazu?

Ich bin dafür, dass wir Kriegsverbrecher vor den Internationalen Strafgerichtshof bringen – aber dann bitte alle! Alle, die in der Politik für völkerrechtswidrige Kriege Verantwortung tragen! Sonst werden wir auf dieser Welt keinen Frieden finden. Nur wenn wir mit gleichen moralischen Kriterien an alle diese Fragen herangehen, wenn wir den Grundsatz beherzigen »Was du nicht willst, das man dir tu, das füg’ auch keinem anderen zu«, werden wir vielleicht dem Frieden in dieser Welt ein Stück näher kommen.

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