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Franz Bartmann: Digitalisierung als ethische Verpflichtung

Digitalisierte Gesundheit – Fluch oder Segen? Die Digitalisierung des Gesundheitswesens verspricht viele Vorteile: Allergien, Vorerkrankungen, Medikationen und andere wichtige Informationen sollen im Notfall in der elektronischen Patientenakte sofort einsehbar sein. Aber wie steht es um die Sicherheit solcher zentral gespeicherten Gesundheitsdaten? Während Franz Bartmann von der Notwendigkeit dieser Entwicklungen überzeugt ist, da eine solche Datensammlung viele Menschenleben retten kann, mahnt Andreas Meißner die bedrohlichen Folgen an: So könnte dies der Weg hin zu einem gläsernen Patienten und einem Gesundheitswesen sein, das nur noch auf ökonomischen Gewinn abzielt und das Menschliche dabei übergeht. Sollte eine Zukunft, in der Algorithmen die Behandlung und das Gespräch zwischen Arzt und Patient ersetzen, als Verlust oder Fortschritt verstanden werden? In dem heutigen Kommentar kommt Franz Bartmann zu Wort, als Antwort auf den Beitrag von Andreas Meißner von Mittwoch.

Seit Beginn der Debatte über die Digitalisierung in der Medizin wird in Teilen der Ärzteschaft immer wieder davor gewarnt, dass sich durch diese das Arzt-Patient-Verhältnis dramatisch verändern würde, und zwar zum Schlechteren, wie in der Regel unterstellt wird. Diese Warnung ist keineswegs gänzlich unbegründet – und auch nicht neu. Allerdings werden sich die Verhältnisse vermutlich weitreichender und tiefgehender verändern, als dies bisher im Raum steht. Wir stehen nämlich erst am Beginn einer epochalen Veränderung, wie sie zuletzt vor 200 Jahren nach Erfindung und Einführung des Stethoskops als Startpunkt der investigativen Diagnostik stattgefunden hat. Auch damals prognostizierten manche Mediziner eine nachhaltige Störung des Arzt-Patient-Verhältnisses, nämlich aufgrund der durch das Untersuchungsgerät künstlich geschaffenen räumlichen Distanz zwischen Arzt und Patient. Es konnte schließlich niemand ahnen, dass heute bereits diverse Anforderungsscheine für die apparative Diagnostik ausgestellt sind, bevor der Arzt selbst den Patienten zu Gesicht bekommen, geschweige denn mit ihm geredet hat.

Genau das aber ist die letzte Konsequenz und der momentane Endpunkt einer Entwicklung, die damit eingesetzt hat, dass der Arzt durch technische Hilfsmittel in die Lage versetzt wurde, Körperphänomene wahrzunehmen, die seinen unbewaffneten fünf Sinnen und auch dem Patienten selbst verborgen blieben. Aus Zuhören war Abhören geworden. Damit aber gerät der Patient im Falle einer ernsthaften Erkrankung fast zwangsläufig in ein passives Abhängigkeitsverhältnis. Das zunehmende Bemühen um eine »Begegnung auf Augenhöhe«, auch »Informed Consent« genannt, thematisiert dies aus einer anderen Perspektive, ohne substanziell das faktische Rollenverhalten aufzulösen. Der Patient wird in Zukunft aber wieder zunehmend vom Informations- und Leistungsempfänger zum Informationsträger und Informationsgeber.

Der Körper generiert permanent Daten, die Rückschlüsse zulassen auf die körperliche und seelische Verfassung einer Person. Diese warten nur darauf, aufgenommen und interpretiert zu werden: Die Beschleunigungssensoren in jedem heutigen Smartphone generieren allein durch die Art, in der sein Besitzer dieses aus der Hosentasche zieht, automatisch ein typisches Bewegungsprofil, welches in der Mustererkennung einem individuellen Fingerabdruck nahekommt. Damit verbunden sind die Health-Funktionen in der iPhone-App, die ein lückenloses Bewegungs- und Aktivitätsprofil des Nutzers aufzeichnen. Und selbst während der Autofahrt sind moderne Bordcomputer in der Lage, Daten über das Fahrverhalten des Fahrzeuglenkers während der Autofahrt aufzuzeichnen. Daraus sind Nutzer- und Personenprofile ableitbar, die zum Beispiel zu Vergünstigungen in speziellen Versicherungstarifen genutzt werden können. Hier wie dort lässt die Nutzung spezieller Algorithmen Rückschlüsse auf die körperliche und seelische Verfassung des Trägers beziehungsweise Fahrzeugführers zu. Auch smarte Hausgeräte sowie Assistenzsysteme wie Alexa oder Siri werden sich in Zukunft zunehmend zum selbstverständlichen Begleiter im Gesundheitsmanagement entwickeln. Was im ersten Moment unheimlich anmuten mag, sollte unbedingt aus der Perspektive des Nutzens heraus betrachtet werden: Solche Daten, die Aussagen über den Gesundheitszustand eines Menschen treffen können – erstens in natürlichen Situationen, die in einer Praxis niemals herzustellen wären, außerdem von jeglichem Aufwand befreit –, können Leiden verhindern und möglicherweise sogar Leben retten! Wer sich also im Hinblick auf die medizinische Bedeutung von Smartphones, AppleWatches, medizinischen Wearables & Co., ausschließlich kapriziert auf Gadgets wie die Erfassung von Fitnessdaten oder die Möglichkeit, durch minimale Restströme ein EKG zu erstellen, würde die Möglichkeiten im Hinblick auf die Detektion und Lokalisation von Normabweichungen im heutigen Krankheitssinne vermutlich weit unterschätzen. Aber genauso wenig, wie René Laennec, der Erfinder des Stethoskops, und seine Zeitgenossen im frühen 19. Jahrhundert die weitere Entwicklung der Untersuchungstechnologie bis zum heutigen Stand vorausahnen konnten, ist es heute möglich, die tatsächliche Entwicklung der digitalen Sensorik und deren Bedeutung für Diagnostik und Therapie in der weiteren Zukunft zu prognostizieren. Dass die Entwicklung in dieser Weise weiter fortschreitet, muss jedoch als vorgegeben und unumkehrbar erscheinen.

Damit hätte sich das Arzt-Patient-Verhältnis tatsächlich um 180 Grad gedreht. Der Arzt ist im Konsultationsfall auf die Daten angewiesen, die der Patient ihm liefert und nicht mehr umgekehrt. Oder wie man den mittlerweile weithin bekannten Buchtitel des amerikanischen Kardiologen Eric Topol, The Patient Will See You Now, etwas freier übersetzen könnte: »Herr Doktor, der Patient hat jetzt Zeit für Sie«.

Die Digitalisierung Der Medizin ist kein Selbstzweck. Sie ist weder gut noch schlecht, sondern in vielen Bereichen der Versorgung einfach notwendig, um den heutigen und künftigen Herausforderungen in einem digitalisierten Umfeld begegnen zu können. Im Gegensatz zu häufig geäußerten Befürchtungen wird sie den Arzt nicht verdrängen oder gar ersetzen, sondern ihm einen neuen Stellenwert im Kosmos Gesundheitswesen zuweisen.

Die zentralen Kritikpunkte an einer Digitalisierung der Medizin ergeben sich aus den Fragen zum Datenschutz und der Befürchtung, dass dieser Schaden leiden könnte. Und zweifellos ist der Schutz von Gesundheitsdaten tief im ärztlichen Ethos verankert. Diesem ärztlichen Ethos entspricht jedoch in noch entscheidenderem Maße die Verpflichtung, Leiden zu lindern und Krankheiten zu heilen. Im Zielkonflikt sollte daher immer als oberste Maxime das Patientenwohl stehen.

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