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Andreas Meißner: Digitalisierung als Weg zum gläsernen Patienten

Digitalisierte Gesundheit – Fluch oder Segen? Die Digitalisierung des Gesundheitswesens verspricht viele Vorteile: Allergien, Vorerkrankungen, Medikationen und andere wichtige Informationen sollen im Notfall in der elektronischen Patientenakte sofort einsehbar sein. Aber wie steht es um die Sicherheit solcher zentral gespeicherten Gesundheitsdaten? Während Franz Bartmann von der Notwendigkeit dieser Entwicklungen überzeugt ist, da eine solche Datensammlung viele Menschenleben retten kann, mahnt Andreas Meißner die bedrohlichen Folgen an: So könnte dies der Weg hin zu einem gläsernen Patienten und einem Gesundheitswesen sein, das nur noch auf ökonomischen Gewinn abzielt und das Menschliche dabei übergeht. Sollte eine Zukunft, in der Algorithmen die Behandlung und das Gespräch zwischen Arzt und Patient ersetzen, als Verlust oder Fortschritt verstanden werden? In dem heutigen Kommentar kommt Andreas Meißner zu Wort, kommende Woche folgt ein Auszug von Franz Bartmann.

Telematikinfrastruktur (TI) und die elektronische Patientenakte (ePA) sind leider nicht – wie oft suggeriert – nützlich, transparent und freiwillig. Mit Floskeln, die KI und Big Data wegen der unaufhaltbaren Digitalisierung, einem Rückstand gegenüber anderen Ländern sowie der Konkurrenz zu China und den USA Alternativlosigkeit andichten, wird ein großes Datensammelprojekt implementiert, anstatt den Blick auf die eigentlichen Notwendigkeiten im deutschen Gesundheitswesen zu richten.

Für viele Ärzte wären verschlüsselte digitale Verbindungen zu Kollegen und Kliniken, aber auch zu Patienten durchaus nützlich, etwa um Blutwerte oder andere Befunde schnell zu übermitteln. Hierbei sollten jedoch die Prinzipien von dezentraler Datenspeicherung und Freiwilligkeit für alle Beteiligten beachtet Werden, was auch bei der Corona-Warn-App die Akzeptanz deutlich erhöht hat. Gut geeignete resiliente, dezentrale und sichere Konzepte für die digitale Vernetzung der Akteure im Gesundheitswesen sind von technischer Seite längst veröffentlicht, werden jedoch von den gesundheitspolitischen Verantwortlichen ignoriert. Damit ließen sich auch digitale Fallakten, die etwa während einer Behandlung einer Krebserkrankung daran beteiligten Ärzten und Therapeuten gleichzeitig zur Verfügung stehen, gut etablieren. Ebenso wünschenswert wäre die Möglichkeit, auf sicheren Wegen Patienten digitale Praxisunterlagen mitgeben zu können, etwa bei Arztwechsel oder Umzug. Allerdings ist dies mit Arztbriefen, in denen bisheriger Verlauf und aktueller Befund zusammengefasst werden, oder mit allem Wichtigen auf einem Blatt Papier in den meisten Fällen ebenso gut möglich, was für den nachfolgenden Arzt oder Therapeuten den Vorteil hat, schnell und kompakt über die wesentlichen Krankheitsfakten seines neuen Patienten informiert zu werden. Der von E-Health-Befürwortern oft geäußerte Spott über Papier- und Zettelwirtschaft ist daher absolut unangebracht. »Nur weil etwas digital ist, ist es noch lange nicht modern«, meint treffend eine Technikhistorikerin. Zudem zeigen aktuelle Lieferschwierigkeiten bei Halbleitern und Chips sowie die durch Krieg und Klima wachsende Notwendigkeit, Energie zu sparen, Grenzen auf. Ein Mangel an vielen Dingen, vor allem aber an Personal, kennzeichnet unsere heutige Situation, nicht ein Mangel an Technik und digitaler Datenverwaltung. Aber auch die Finanzen sind knapp: Solange mir immer noch Patienten berichten, dass sie das zuletzt ausgestellte Rezept aus finanziellen Gründen nicht hätten einlösen können, gleichzeitig aber Krankenkassen wegen hoher Defizite bereits wieder Leistungskürzungen planen, solange brauchen wir keine Technik, die Milliarden verschlingt und dem Gros der Patienten nicht weiterhilft. Prognosen zu Einsparungen durch Digitalisierung sind schon alleine deshalb unglaubwürdig, weil die dabei entstehenden hohen Kosten für die IT-Industrie vom Gesundheitswesen mitfinanziert werden und daher, um dieses Ziel erreichen zu können, Ressourcen an anderer Stelle abgezweigt werden müssen. Eine geringere Anzahl an Kliniken, Praxen und Personal mag dann zu Einsparungen verhelfen, kann aber nicht das Ziel vernünftiger Gesundheitspolitik sein.

Die ePA als Kernelement des Digitalisierungsschubs im Gesundheitswesen jedenfalls stellt in ihrer derzeitigen Form eine Antwort auf Fragen dar, die keiner gestellt hat. Sie ist kompromittiert und wertlos. Diesen beiden von der Kassenärztlichen Bundesvereinigung getroffenen Aussagen ist zuzustimmen. Notfalldatensatz und Medikationsplan etwa wären auf dem Kartenchip einfacher verfügbar, was 2023 jedoch abgeschafft wird. Die Komplexität der Technik wird zu weiteren TI-Störungen führen, sodass es sich als wertvoll erweisen könnte, wenn es noch TI-freie Praxen und analoge Möglichkeiten zum Erstellen von Formularen wie AU und Rezept gibt. Der Ausfall der Notrufnummern 110 und 112 in mehreren Bundesländern Ende 2021 hat die Folgen aufgezeigt, die die Umstellung kritischer Infrastrukturen des täglichen Lebens auf Internetbetrieb haben kann, nur weil es vordergründig billiger und effizienter erscheint (letztlich aber Bequemlichkeit, angebliche Modernität sowie insbesondere viele Daten verspricht). Die Risikoforschern bekannte gefährliche Kombination aus Komplexität und wechselseitiger Vernetzung, die schon bei Unfällen in Kernkraftwerken, aber eben auch in Pandemien sowie im Zuge der Globalisierung unsere Anfälligkeit deutlich gemacht hat, steuern wir technisch nun auch im Gesundheitswesen an. Erhöht wird durch diese Komplexität und Vernetzung die Abhängigkeit von Spezialisten, die Technik und damit gesammelte Daten geraten so leicht zum Machtinstrument. Wer die Daten hat, hat auch die Macht, diese für eigene Interessen zu verwerten – die amerikanischen Großkonzerne machen dies ja bereits vor.

Dies ist ein weiterer Grund, gegen die undifferenzierte »Anbetung« der Digitalisierung im Sinne einer »Superideologie« aufzubegehren und die Aufmerksamkeit auf die eigentlichen Probleme des Gesundheitswesens zu lenken, die sich in den nächsten Jahren zuspitzen werden und daher dringend angegangen werden müssen. Doch die sich wie selbstverständlich vollziehenden Entwicklungen auszubremsen, scheint aus mehreren Gründen kaum möglich: Zunächst wird der technische Fortschritt oftmals als etwas dargestellt, das sich auf scheinbar natürliche Weise immer weiterentwickelt – und deshalb nicht hinterfragbar ist. Er scheint zudem nicht selten zu unverständlich, zu komplex und nur von Experten wirklich verstehbar. Es kommt erschwerend hinzu, dass dieses Thema kaum öffentlich diskutiert wird und somit schlichtweg die nötigen Informationen zur Bildung einer eigenen Haltung fehlen. Auch das fehlende Verständnis für die Folgen spielt eine nicht zu unterschätzende Rolle, die allerdings ebenfalls mit fehlender Transparenz in Zusammenhang steht.

Was wir in Bezug auf unser Gesundheitswesen brauchen, ist das genaue Gegenteil dessen, was gerade mit ihm passiert: Wir müssen für den Erhalt einer humanen Medizin kämpfen, die primär mit dem Menschen arbeitet – innerhalb derer Menschen mit Menschen arbeiten. In diesem Sinne lässt sich Gesundheit grundsätzlich nicht digitalisieren. Nicht Daten heilen. Beziehung heilt, wie der bekannte Psychiater und Psychotherapeut Irvin Yalom betont. Gemeint ist die Beziehung zwischen Patienten und Ärzten wie Therapeuten, die untersuchen, zuhören und behandeln. Daten sind hier allenfalls ein Hilfsmittel, ähnlich wie die Blutentnahme, der Röntgenapparat oder der Rezeptblock. Um diese wird allerdings kein vergleichbarer Hype veranstaltet. Von vielen Kollegen, die noch einen hohen Wert auf das zeitintensive beratende, oft auch tröstende Gespräch legen, ist zu hören, wie sehr sie sich als aussterbende Spezies fühlen. Patienten wiederum klagen verständlicherweise oft darüber, sich nicht gehört und wahrgenommen zu fühlen, weil Technik, gewinnorientierter Durchsatz und Schnelligkeit die Abläufe bestimmen. All dies wird mit MVZs und Callcenter-Medizin wohl noch an Bedeutung gewinnen. Patienten wie Behandelnde jedoch benötigen Vertrauen und die Sicherheit, dass die Gespräche, die einen absolut privaten Bereich betreffen, in einem geschützten Raum aufgehoben sind. Beides ist durch die aktuellen Entwicklungen gefährdet. Das Vertrauen in die Gesundheitspolitik hat zudem durch die oben beschriebenen Zwangstendenzen sowie die meist still vollzogenen Regelungen der letzten Jahre erheblichen Schaden genommen. Zu fordern sind daher behutsame Veränderungen, die die Akteure im Gesundheitswesen an den künftigen Entwicklungen beteiligen. Sinnvolle Neuerungen mit Mehrwert, die Prozesse und Abläufe tatsächlich verbessern, werden sich dann von alleine durchsetzen und entsprechende Nachfrage erfahren.

Im Zentrum der Behandlung stehen jedoch weiterhin die analoge Beziehung, die Zuwendung und der persönliche Kontakt. Um diese zu fördern, benötigen wir nicht primär weitere digitale Technik, die sowieso schon viele Menschen überfordert und sich bei TI und ePA bisher leider als zeitfressende Workflowbremse erweist, sondern mehr Zeit für das analoge Gespräch. Und vor allem werden Menschen benötigt, die Behandlung und Pflege durchführen. Sie sind das Kernelement der Medizin und daher elektronisch nicht zu ersetzen. Dafür brauchen wir Pflegende, Ärzte und Therapeuten, die nicht verunsichert oder frustriert von Dokumentation und Dateneingabe sind und zunehmend das Vertrauen in das Gesundheitswesen sowie zum Staat verlieren, sondern offen, engagiert und motiviert handeln. Wenn in diesem Sinne Menschen weiterhin für Menschen da sein können, die von Leiden geplagt sind und in ihrem Umfeld oft nur wenige Ansprechpartner haben, wäre in heute vielfach schwierigen und unüberschaubaren Zeiten viel für eine lebenswerte Gesellschaft getan.

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