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Westliche Doppelmoral

Die territoriale Integrität eines souveränen Staates wie der Ukraine kann nur auf dem Verhandlungswege, nicht aber mit Gewalt geändert werden. Dafür steht das in der UN-Satzung festgeschriebene Gewaltverbot, die Fundamentalnorm unserer völkerrechtlichen Ordnung. Wer diese Norm verletzt, stellt die Ordnung selbst in Fragesagt, so Kai Ambos, Professor für Strafrecht und Völkerrecht an der Universität Göttingen und Richter am Kosovo Sondertribunal in Den Haag. Jenseits des flagranten russischen Völkerrechtsbruchs durch den Angriffskrieg gegen die Ukraine, verschärft noch durch die jüngsten Annexionen und Flächenbombardements, ist die uns interessierende Frage jedoch, ob nun gerade der Westen den Anspruch erheben kann, mittels seiner Ukraine-Politik das Gewaltverbot und die regelbasierte Völkerrechtsordnung insgesamt zu verteidigen bzw. wiederherzustellen?

Wenn wir über das Völkerstrafrecht im Zusammenhang mit der Ukraine sprechen, geht es vor allem, wie schon oben erwähnt, um die zentrale (supranationale) Verfolgung möglicher russischer, aber auch ukrainischer Kriegsverbrechen durch den Internationalen Strafgerichtshof. Leider ist jedoch auch diese Institution nicht von Problemen und inneren Widersprüchen frei und eine Gesamtbilanz ihrer Arbeit nach nunmehr 20 Jahren fällt durchaus gemischt aus.

Im hiesigen Zusammenhang ist es vor allem von Interesse, wie die Anklagebehörde des Gerichtshofs mit möglichen völkerrechtlichen Verbrechen westlicher Staaten umgegangen ist. Was insoweit die Lage im Irak seit der US-Invasion und der nachfolgenden Besatzung betrifft, so konzentrierte sich die Voruntersuchung (die sogenannte »preliminary examination«) auf mutmaßliche Verbrechen, die von britischen Staatsbürgern zwischen 2003 und 2008 begangen wurden, darunter Mord, Folter und andere Formen von Misshandlungen. Die ehemalige Chefanklägerin Fatou Bensouda, eine gambische Staatsangehörige, stellte die Ermittlungen am 9. Dezember 2020 ein und begründete dies im Kern mit den innerstaatlichen Ermittlungen im Vereinigten Königreich, die ein Verfahren vor dem Strafgerichtshof – nach dem sogenannten Komplementaritätsgrundsatz – unzulässig machten. Allerdings wurden die besagten innerstaatlichen Ermittlungen zwischenzeitlich ebenfalls ohne Anklageerhebung eingestellt.

Was die Situation in Afghanistan angeht, so ist die Anklagebehörde von einer hinreichenden Grundlage für die Aufnahme von (förmlichen) Ermittlungen ausgegangen, doch zunächst hat die zuständige Vorverfahrenskammer ihrem Antrag auf Genehmigung zur Einleitung Dieser Ermittlungen nicht stattgegeben. Die Berufungskammer hat diese Entscheidung im März 2020 aufgehoben und die Anklägerin ermächtigt, die förmlichen Ermittlungen einzuleiten. Auf dieser Grundlage ersuchte der aktuelle Chefankläger Karim Ahmad Khan am 27. September 2021 um Ermächtigung zur Wiederaufnahme der förmlichen Ermittlungen, beschloss aber gleichzeitig, sich »auf mutmaßlich von den Taliban und dem Islamischen Staat – Provinz Khorasan (›IS-K‹) begangene Verbrechen zu konzentrieren und andere Aspekte dieser Ermittlungen zu depriorisieren«, womit möglichen US-Verbrechen faktisch nicht weiter nachgegangen wird.

Diese Entscheidung ist bedauerlich, denn sie erweckt den Eindruck, auf Druck der US-Regierung ergangen zu sein. Dies deshalb, weil die gerade erwähnte Entscheidung der Berufungskammer zu einem beispiellosen Angriff der damaligen Trump-Regierung auf den Strafgerichtshof geführt hat, in dessen Rahmen unter anderem gegen die damalige Chefanklägerin Bensouda und leitende Mitarbeiter der Anklagebehörde Sanktionen verhängt und der Gerichtshof samt seinem Personal diffamiert und beleidigt wurden. In unserem Zusammenhang noch wichtiger ist, dass die »Depriorisierung« der Ermittlungen zu möglichen US-Verbrechen die vor allem aus dem Globalen Süden bekannte und geäußerte Kritik an einer Bevorzugung mächtiger westlicher Staaten neue Nahrung gibt. Darüber hinaus ist die uneingeschränkte Unterstützung der von der Anklagebehörde geführten Ukraine-Ermittlungen durch die Biden-Regierung, die eine radikale Kehrtwende der US-Politik – von einem wütenden Kritiker des Gerichtshofs zu einem entschiedenen Befürworter (soweit es das innerstaatliche Recht und die Politik zulassen) – schwer nachzuvollziehen. Ist sie nur eine Konsequenz der geänderten innenpolitischen Rahmenbedingungen – mit einem demokratischen Präsidenten statt einem extremistischen Republikaner – oder hat sie mit der (anti-russischen) Stoßrichtung der Ukraine-Ermittlungen im Vergleich zu den (ursprünglich auch die USA betreffenden) Afghanistan-Ermittlungen zu tun?

Jedenfalls besteht, angesichts der Zusammensetzung der oben erwähnten Gruppe der die Ukraine (rechtlich und tatsächlich) unterstützenden Staaten und der führenden Rolle der USA in dieser Gruppe, die ernsthafte Gefahr einer Instrumentalisierung des Internationalen Strafgerichtshofs. Dies bestätigt in gewisser Weise die bereits kritisierte Tendenz, die in der kürzlich eingerichteten Gemeinsamen Ermittlungsgruppe (Joint Investigation Team, JIT) – einem besonderen Ermittlungsinstrument im Rahmen der europäischen polizeilich-justiziellen Zusammenarbeit – zur Ukraine zum Ausdruck kommt: Nicht nur spielt die Ukraine in dieser Ermittlungsgruppe eine herausragende Rolle – obwohl sie Konfliktpartei und noch immer keine Vertragspartei des IStGH-Statuts ist –, auch die anderen beteiligten Staaten (Estland, Lettland, Litauen, Polen, Slowakei), die bekanntlich eine besonders russlandkritische Position einnehmen, garantieren nicht ohne weiteres die Unparteilichkeit der Ermittlungen. Hinzu kommt, dass das jüngst in Kraft getretene ukrainische Gesetz zur Zusammenarbeit mit dem IStGH eine dezidiert antirussische Tendenz aufweist. Dies scheint weder die westlichen Akteure, einschließlich der EU, noch den IStGH besonders zu besorgen; jedenfalls hört man keinen öffentlichen Protest. Immerhin hat sich die IStGH-Anklagebehörde der Ermittlungsgruppe nicht als Mitglied (»member«), sondern nur als Beteiligter (»participant«) angeschlossen. Dies zeigt eine gewisse kritische Distanz zu dieser Ermittlungsgruppe – ganz anders als im Fall der kürzlich zu Verbrechen gegen Migranten in Libyen eingerichteten Ermittlungsgruppe, der die Anklagebehörde sofort als Mitglied beigetreten ist – und zu den von der Ukraine geführten Ermittlungen insgesamt. Umso erstaunlicher ist es, dass, wie man aus Den Haag hört, mit Brenda Hollis eine US-Amerikanerin zur Leiterin der Ukraine-Ermittlungen in der IStGH-Anklagebehörde gemacht wurde.

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