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Meinungsmanipulation von der Wendezeit bis zur Zeitenwende

Seit Beginn des Ukraine-Krieges ist wieder von „Zeitenwende“ die Rede. Seither wiederholen sich vor allem in den Medien Phänomene, die schon bei der Wende zu beobachten waren. Daniela Dahn und Rainer Mausfeld beschäftigen sich in ihrem Buch „Tamtam und Tabu“ unter dem Aspekt der Meinungsmanipulation mit den Kontinuitäten, die beide Ereignisse miteinander verbinden. Es liefert einen schonungslosen Befund des gegenwärtigen Zustands der Demokratie. Ein Auszug aus einem Gespräch zwischen den beiden Autoren.

Daniela Dahn: Warum hat Russland, entgegen seiner anderslautenden Beteuerungen, diesen völkerrechtlich, moralisch wie politisch so eindeutig zu verurteilenden Schritt getan, mit all seinen menschlich wie politisch desaströsen Folgen? Selbst wenn man zugesteht, dass Russland vom Westen in den vorhergehenden Jahren, wenn nicht Jahrzehnten, immer wieder hemmungslos provoziert und in seinen Sicherheitsbedürfnissen verletzt worden ist, wenn auf seine Vorschläge keine Antworten kamen, kann man den Angriffskrieg keinesfalls als alternativlos ansehen. Der Kreml hätte die verfügbaren internationalen Instrumente einer Konfliktlösung ausreizen müssen, bevor er militärische Gewalt einsetzt. Russland hätte dann, auch zu seinem eigenen Nutzen, der Welt ein Modell ziviler Konfliktlösung vor Augen führen können. Darauf hatten viele gehofft, auch ich. Diese Chance ist mit dem im wahrsten Wortsinn unerklärten Krieg gegen die Ukraine vertan worden. All diejenigen, die eine europäische Friedensordnung unter Einschluss Russlands erstrebten, müssen sich nun von diesem Vorgehen zutiefst düpiert fühlen. Sie werden von transatlantischen Kriegstreibern und all denjenigen, die immer schon zu wissen glaubten, wo alles Böse in der Welt zu verorten ist, als »Lumpenpazifisten« verspottet und werden selbst als Mitverursacher dieser Krise diffamiert. Warum stellt der Kreml eigene Sicherheitsinteressen – wie berechtigt diese auch sein mögen – über tausendfach ausgelöschtes menschliches Leben und nimmt in Kauf, große Teile des historisch und kulturell eng verbündeten Nachbarn in Schutt und Asche zu bomben?

Rainer Mausfeld: Diese Frage lässt sich nicht losgelöst von der Vorgeschichte beantworten. Die letzte Chance wäre gewesen, über Putins Vorschlag für einen Vertrag zwischen der russischen Föderation und den USA zu reden, der seit Mitte Dezember 2021 auf der Seite des russischen Außenministeriums für alle einsehbar war. Neutralität der Ukraine, Autonomie für den Donbass, das Krim-Referendum bleibt gültig und die NATO zieht ihre Atomwaffen aus den einstigen Sowjetrepubliken zurück. Damit hätte die Welt leben können, selbst die Ukraine.

Daniela Dahn: Ja, aber die Biden-Administration ließ wissen, dass Neutralität, die Kernforderung, nicht verhandelbar sei. Sie liebäugelte offensichtlich mit Krieg und wischte das Angebot als Maximalforderung vom Tisch. Also aussichtslos für Moskau. Dennoch erscheinen mir die Folgen des russischen Schritts so gewaltig, dass keine Form der Vorgeschichte mit geradezu deterministischer Konsequenz andere Möglichkeiten ziviler Konfliktlösung ausgeschlossen hätte. Es gab – und gibt – stets einen Spielraum für Handlungsoptionen. Putin und seine Leute hatten, davon gehe ich aus, trotz allem eine Wahl. Und sie haben die falsche getroffen. Als politische Schriftstellerin muss ich eine andere Perspektive einnehmen, als nur die Logik der Realpolitik zu analysieren. Daher mein Unbehagen, die ganze Last der Verantwortung nun der Vorgeschichte aufzuerlegen. Was immer der Westen falsch gemacht hat (nämlich so ziemlich alles), es rechtfertigt nichts diesen fatalen Angriffskrieg. Er bringt den Ukrainern in den betroffenen Gebieten ein Inferno und verstößt offensichtlich selbst gegen russische Interessen. Im Völkerrecht ist dies die gravierendste Verletzung, die die UN-Charta kennt, das schlimmste Verbrechen. Und da wir das Völkerrecht hochhalten, gibt es da nichts zu deuteln.

Rainer Mausfeld: Dass »wir« das Völkerrecht wirklich hochhalten, bezweifle ich. Denn die gesamte Nachkriegsgeschichte zeigt, dass dieses »schlimmste Verbrechen« ohne allzu große Empörung der Öffentlichkeit wieder und wieder begangen werden konnte, solange es nur von den »Richtigen« begangen wurde. Klar ist aber: Jede Form der Gewalt gegen die Zivilbevölkerung, sei es militärische oder wirtschaftliche, ist von allen, denen elementare moralische Kategorien nicht abhandengekommen sind, ohne Wenn und Aber entschieden zu verurteilen. Hier gibt es nicht den geringsten Spielraum für eine moralische Billigung. Es beinhaltet aber keinerlei Billigung, rational nachvollziehen zu wollen, wie es zu einer militärischen Form der Auseinandersetzung gekommen ist. Nur wenn wir dies besser verstehen, haben wir für zukünftige Situationen eine Chance, andere Wege der Konfliktlösung zu finden. Im Nachhinein und im Konjunktiv lässt sich ja immer vieles bedenken, was als bessere Option hätte möglich sein können. Es gab vage Bemühungen eine diplomatische Lösung zu finden, vor allem durch Macron, doch war Frankreich innerhalb der EU damit weitgehend isoliert. Fest stand, spätestens seit den letzten Jahren der Clinton-Regierung, dass die USA diesen Stellvertreterkrieg gegen Russland unbedingt wollten. Die Fülle historischer Belege dafür ist überwältigend. Das lässt sich im Detail belegen, von der berüchtigten Wolfowitz-Doktrin des Pentagon von 1992, die ausdrücklich – sachlich kontrafaktisch – Russland als Sicherheitsrisiko für die beanspruchte globale Hegemonie der USA ansah, bis hin zum Januar 2022. Beispielsweise wurde das militärische Lend-LeaseProgramm, mit dem Kiew 15 Milliarden Dollar in Form amerikanischer Militärausrüstung zur Verfügung gestellt wurde, bereits am 19.01.2022 in das Senatsverfahren eingebracht, also einen Monat vor dem russischen Angriff. Obwohl all diese historischen Belege gut dokumentiert sind, sind sie im öffentlichen Bewusstsein weitgehend nicht verfügbar – eine höchst bemerkenswerte Leistung einer tiefgehenden Narrativkontrolle, deren Erklärung in einer Demokratie und für die Möglichkeit von Demokratie überhaupt von entscheidender Bedeutung ist.

Daniela Dahn: Sicher, die Ukraine ist in den letzten Jahren wie ein de facto NATO-Mitglied aufgerüstet worden, so wie kein anderes Land. Beispielsweise ist in Otschakiw, westlich der Krim, seit 2017 ein Marinehafen mit großer Start- und Landepiste gebaut worden – wozu? NATO-Manöver auf ukrainischem Territorium haben die Truppen ausgebildet und trainiert – ein Novum für ein Nichtmitglied. Aber selbst die ukrainischen Verhandlungsangebote vom März kamen den russischen Vorstellungen entgegen. Nämlich Neutralität mit Sicherheitsgarantien, der nicht-nukleare Status der Ukraine, Verhandlungen über die Anerkennung der Krim und ein Referendum über künftigen Status der Donbass-Republiken. Doch da stoppten die NATO-Verbündeten, keine Zugeständnisse, mit unseren Waffen werdet ihr einen vollständigen Sieg erkämpfen.

Rainer Mausfeld: In Deutschland haben die großen Medien die Regierung in einem Kampagnenjournalismus vor sich hergetrieben, diplomatische Lösungen kategorisch ausgeschlossen und auf Ausweitung einer militärischen Unterstützung gedrungen. In den westdeutschen Leitmedien ist der Antirussismus tief verwurzelt. Schon 2009 stellte Michail Gorbatschow hinsichtlich der Russland-Berichterstattung im Deutschlandfunk fest: »Die deutsche Presse ist die bösartigste überhaupt.« Das ist nicht überraschend, da sich die deutschen Leitmedien hemmungslos in den Dienst transatlantischer Eliten gestellt haben. Darüber hatte »Die Anstalt« 2014, als sie noch eine Sendung des mutigen und unerschrocken investigativen Kabaretts war, ausführlich berichtet. In der gegenwärtigen Ukraine-Krise hat der ideologische Furor, mit der alle großen Medien gegen Russland hetzen, einen neuen Höhepunkt erreicht.

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