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Bernd Hontschik: Heile und herrsche

Tags: wird werden mehr

Was wir in Deutschland derzeit erleben, ist eine Zeitenwende: Krankenhäuser werden aus öffentlichem Besitz an Klinikkonzerne verschleudert. Der Patient wird der Digitalisierung geopfert. Das Gesundheitswesen wird zu einem profitablen System umgebaut, in dem Ökonomen und Politiker das Sagen haben. Bernd Hontschik fordert eine medizinische Versorgung frei vom ökonomischen Diktat. Dafür stellt er die entscheidenden Fragen: Brauchen wir hundert Krankenkassen? Kann man die ungezügelt agierende Pharmaindustrie bändigen? Muss man Patientendaten in zentralen Servern speichern? Wie lassen sich Arbeitshetze und miserable Bezahlung im Pflegebereich beenden? Bernd Hontschik legt den Finger in die Wunde und klärt auf.

Vor drei Jahren hatte ich mich entschlossen, ein Buch zu schreiben. Mit ihm wollte ich zeigen, dass der Mensch keine Maschine ist, dass die Medizin als profitables Geschäftsmodell dabei ist, ihre Seele zu verlieren, und dass man gegen Krankheiten keinen Krieg führen kann. Ich war zunehmend empört über eine Gesundheitspolitik, die wie am Fließband ständig neue Gesetze mit immer neuen Fantasienamen produzierte, um die Umgestaltung des Gesundheitswesens zu einer renditeorientierten und digitalisierten Gesundheitswirtschaft zu beschleunigen.

Im Kommunistischen Manifest schrieben Karl Marx und Friedrich Engels schon 1848: »Das Bedürfnis nach einem stets ausgedehnteren Absatz für ihre Produkte jagt die Bourgeoisie über die ganze Erdkugel. Überall muß sie sich einnisten, überall anbauen, überall Verbindungen herstellen.« Diese Beschreibung des Prozesses der Kapitalexpansion als Ausbreitung »über die ganze Erdkugel« Wird in heutigen Analysen der Globalisierung und des Imperialismus häufig herangezogen, um Marx und Engels fast hellseherische Fähigkeiten zuzuschreiben. Sie schrieben damals weiter: »Die Bourgeoisie hat durch die Exploitation des Weltmarkts die Produktion und Konsumtion aller Länder kosmopolitisch gestaltet. Sie hat … den nationalen Boden der Industrie unter den Füßen weggezogen. Die uralten nationalen Industrien sind vernichtet worden und werden noch täglich vernichtet. Sie werden verdrängt durch neue Industrien, … die nicht mehr einheimische Rohstoffe, sondern den entlegensten Zonen angehörige Rohstoffe verarbeiten und deren Fabrikate nicht nur im Lande selbst, sondern in allen Weltteilen zugleich verbraucht werden. … An die Stelle der alten lokalen und nationalen Selbstgenügsamkeit und Abgeschlossenheit tritt ein allseitiger Verkehr, eine allseitige Abhängigkeit der Nationen voneinander.«

Neben der Globalisierung gibt es jedoch noch einen anderen wichtigen Weg der Kapitalexpansion. Während die Globalisierung als externe, als zentrifugale Expansion beschrieben werden kann, so geschieht – zeitgleich – eine nach innen gerichtete, eine zentripetale Expansion, bei der immer mehr Bereiche der wirtschaftlichen und sozialen Aktivitäten innerhalb eines Landes unter die Kontrolle des Kapitals gebracht werden. Diesen Prozess bezeichnet man beschönigend als »Privatisierung«. Er bedeutet aber nichts anderes als die Expansion kapitalistischer Produktions- und Distributionsmethoden in bislang staatliche, öffentliche oder gemeinnützige Tätigkeiten hinein. Diese Kapitalexpansion ist im Bildungswesen zu erkennen, wo sich in den letzten Jahrzehnten gewinnorientierte Universitäten und Privatschulen ausgebreitet haben. Sie ist zum Beispiel auch in der Auslagerung der Verwaltung von Sozialhilfeprogrammen an private Firmen zu erkennen, sogar privatwirtschaftlich geführte Gefängnisse gibt es schon. Diese Veränderungen sind im Einzelfall sehr unterschiedlich. Allen gemeinsam ist aber eine umgehende Verschlechterung der Bezahlung, der Arbeitszeiten und der Personalplanung. Oder um es noch einmal mit Marx und Engels zu sagen: »Die Bourgeoisie hat alle bisher ehrwürdigen und mit frommer Scheu betrachteten Tätigkeiten ihres Heiligenscheins entkleidet. Sie hat den Arzt, den Juristen, den Pfaffen, den Poeten, den Mann der Wissenschaft in ihre bezahlten Lohnarbeiter verwandelt.«

Die Privatisierung als Destruktionsprozess ist an den Veränderungen des Gesundheitswesens, wie sie hierzulande in den letzten drei bis vier Jahrzehnten geschehen sind, am deutlichsten zu erkennen. Diese Destruktion geschieht in ganz kleinen, fast unmerklichen Schritten, weswegen sie in der Öffentlichkeit kaum zu erkennen ist. Aber sie geht immer in die gleiche Richtung, das ist das Gefährliche daran. Die Protagonisten sagen unaufhörlich, sie sei alternativlos. Die Digitalisierung zum Beispiel sei alternativlos, aber verschwiegen wird, welche Art von Digitalisierung hier erzwungen wird – als ob es nur eine Art gäbe. Die Privatisierung sei alternativlos, weil nur der Markt für bessere Zustände sorgen könne, aber verschwiegen wird, für wen diese besseren Zustände gedacht sind. Und die Kommerzialisierung sei alternativlos, da dringend neues Kapital im Gesundheitswesen gebraucht würde. Verschwiegen wird, dass der katastrophale Mangel an Investivkapital allein darauf beruht, dass ausnahmslos alle Bundesländer seit Jahren und zunehmend ihrem gesetzlichen Auftrag nicht nachkommen, die Krankenhäuser in ihrem Bestand ausreichend zu finanzieren. Verschwiegen wird, dass das Gesundheitswesen mit diesem neuen Kapital nicht mehr dasselbe ist, sondern automatisch zu einem Teil des Wirtschaftssystems wird.

Das Gesundheitswesen war bislang ein Teil unseres Sozialsystems. Die Sozialgesetze, nach denen es funktioniert hat und zum Teil immer noch funktioniert, sind zum großen Teil über 120 Jahre alt. Vor wenigen Jahrzehnten erst setzte die scheibchenweise Deformation ein, sozusagen eine Art kleinschrittiger Entdeckung des Gesundheitswesens durch den Kapitalismus, die zentripetale Expansion. Aus dem Gesundheitswesen wird die Gesundheitswirtschaft.

Im Zuge der Bekämpfung der Corona-Pandemie ist nach dem Übergang vom Gesundheitswesen zur Gesundheitswirtschaft jedoch ein weiterer großer Schritt vollzogen worden: Dem Gesundheitswesen wurde eine politische Aufgabe zugeordnet, um es zur Ausübung politischer Macht zu gebrauchen. Die hat inzwischen eine neue Dimension erreicht, eine Dimension, die man bisher nur aus mehr oder weniger hellsichtigen Science-Fiction-Romanen kannte. Im Zeichen der Corona-Pandemie wurden sämtliche ehernen Grundsätze des Gesundheitswesens und der Humanmedizin gebrochen. Die »Überlastung unseres Gesundheitswesens« als Horrorvision wurde zur »alternativlosen« Begründung für einschneidende Maßnahmen in jeden Alltag, von der Kinderkrippe bis zum Altersheim. Grenzen wurden geschlossen. Die Wohnung wurde zum abgeschotteten Ort der Berufsausübung, der Arbeit, des Kindergartens, der Schule und des Privatlebens gleichzeitig – kein Entrinnen. Und die Wissenschaft erlebte ihr Waterloo, besonders die medizinische, indem ihre Aussagen je nach Bedarf richtig oder falsch zitiert, hervorgehoben oder verschwiegen wurden. Ein Diskurs fand und findet nicht mehr statt. Alles andere als der Lockdown konnte nicht mehr begründet, geschweige denn diskutiert werden. Atemmasken waren anfangs schädlich, dann sinnlos, plötzlich Mangelware, aber dann überall vorgeschrieben. Darüber entschieden haben Politiker:innen. Nicht genehme Wissenschaftler:innen und Berater:innen wurden aus Gremien ausgeschlossen und nicht mehr angehört. Damit hatten sie auch jede weitere Teilnahme an der medialen Kakophonie verwirkt, insbesondere an Talkshows, wo Abend für Abend fast immer die gleichen Gäste ihre fast immer gleiche apokalyptische Botschaft verkünden konnten. Die neuen Impfstoffe, die schon ein Jahr nach Ausbruch der Corona-Pandemie zur Zulassung bereitstanden, wurden von der einzig qualifizierten Ständigen Impfkommission nicht mit der üblichen Ruhe und Sorgfalt beurteilt und geplant, sondern es kam unter ungeheurem Druck von Politiker:innen zu sogenannten Notfallzulassungen – ein bislang nicht bekannter Begriff. Das funktionierende System der niedergelassenen Ärzte wurde monatelang von der Pandemiebekämpfung komplett ausgeschlossen, stattdessen wurden riesige Impfzentren aus dem Boden gestampft, wodurch erstmals zentrale Erfassungskonzepte erprobt und eingeübt werden konnten. Die Pandemie wurde mit manipulierten Infektionsregistern plötzlich zu einer Pandemie der Ungeimpften erklärt, auch wenn die Impfungen nicht hielten, was sie versprochen hatten und ständiger Auffrischungen bedurften. Impfpflicht, Impfzwang und ein bevorstehendes nationales Impfregister waren die allerersten Themen. Dass die stümperhafte Digitalisierung in Deutschland bis heute eine Erfassung der wirklich wichtigen Pandemie-Daten verhindert, ist nur noch ein Nebenschauplatz, wenn auch ein blamabler. Ein Infektionsschutzgesetz nach dem anderen ersetzte das vormalige Bundesseuchengesetz. Es wurde in raschem Rhythmus mehrfach immer wieder modifiziert, sprich: verschärft, insbesondere hinsichtlich der »Ermächtigungen« der Exekutive, die monatelang die Alleinherrschaft übernahm, und dies – das ist das eigentlich Neue – konnte sie nur mit Hilfe der Medizin. Legislative und Judikative hatten für längere Zeit abgedankt.

Deswegen genügt es nicht mehr nur, den schon weit beschrittenen Weg vom Gesundheitswesen zur Gesundheitswirtschaft kritisch zu beschreiben, sondern der nächste, um ein Vielfaches bedrohlichere Schritt von der Gesundheitswirtschaft zur Gesundheitsherrschaft ist längst und unbemerkt Realität geworden. Er kann nicht mehr ignoriert werden. Oder wie Heribert Prantl sagt: »Aus dem Ausnahmezustand wird ein Normalzustand, aus den Notregeln werden Normalregeln. Das ist unnormal, unstatthaft und gesellschaftsschädlich.«

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