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Massentourismus, Tod und Ausbeutung am Mount Everest

Die Bilder gingen um die Welt: Im Mai 2019 kursierte ein Video im Netz, das zeigte, wie zweihundert Menschen unterhalb des welthöchsten Gipfels stundenlang auf den Anstieg warteten, weil Ungeübte das einspurige Auf- und Absteigen behinderten. Elf Menschen starben, vielfach an Erfrierungen oder Erschöpfung. Sie hatten zu lange in der Todeszone anstehen müssen. Die Katastrophensaison in jenem Jahr spiegelt eine neue Dimension des Wahnsinns am Berg wider: den totalen touristischen Ausverkauf. Immer mehr Ungeübte und Unvorbereitete versuchen den Gipfel zu besteigen, immer mehr Agenturen bieten einerseits Billigtarife an – andererseits »Flash«-Touren für besonders gut Betuchte: Everest in drei Wochen. Der für die Einheimischen heilige Berg ist zu einem Ort für einen pervertierten Massentourismus der Luxusklasse geworden. Mit fatalen Folgen für die Bewohner, die Bergsteiger und die Natur. Kenntnisreich und spannend beschreibt Oliver Schulz in seinem Buch die Entwicklung des Everest vom kolonialen Forschungsobjekt zum begehrten Tourismusziel, erzählt vom Traum und Albtraum am höchsten Berg der Erde, vom Geschäft mit dem Höhenwahn, der beispielhaft für den Irrsinn des gesamten internationalen Alpinismus steht.

Die letzten Meter müssen Don Cash wie ein Traum vorgekommen sein. Wie einer von der ganz bösen Sorte. Es ging ihm dreckig, irgendetwas war nicht in Ordnung. Aber was? Und wie sollte in dieser lebensfeindlichen Umgebung überhaupt noch irgendetwas mit dem menschlichen Organismus stimmen? Bei Temperaturen um minus 25 Grad. Bei einem Luftdruck und einem Sauerstoffgehalt, die um zwei Drittel geringer waren als auf Meeresspiegelniveau?

Ein Schritt, drei Minuten Pause, schmerzhaftes Atmen durch die Sauerstoffflasche. Dann wieder ein Schritt … Cash wird die grandiose Aussicht, die sich ihm bot, kaum wahrgenommen haben, die Erdkrümmung, die ab achttausend Metern mit bloßem Auge sichtbar wird, wo das beginnt, was die Todeszone genannt wird. Den Blick auf das schier endlos wirkende tibetische Plateau im Norden, die Ausläufer des Zyklons Fani, die sich südlich des Himalaja-Hauptkamms zu düsteren Wolkenbergen auftürmten. Nicht einmal mehr den schleppenden Gang seines Vordermannes im bunten Alpinanzug, das Drängen seines Hintermannes, der ihm im Nacken hing.

Am 22. Mai 2019 um 8.29 Uhr stand der US-Amerikaner Auf Dem höchsten Punkt der Erde, der dröhnende Jetstream riss ihm fast die Kamera aus der Hand. Sein Sherpa Jangbu machte ein Foto. Flatternde Gebetsfahnen auf dem wenige Quadratmeter großen ovalen Plateau, das den Gipfel ausmacht. Beschlagene Brillen über der Sauerstoffmaske. Mit letzter Anstrengung riss Cash die Arme hoch. Es sollte das letzte Bild von ihm werden. Don Cash kam nie zurück. Die Menschenmassen, die den Berg hinaufdrängten, verhinderten es.

Dabei hatte er so lange auf diesen Moment hingearbeitet. Donald Lynn Cash, 55, ein kräftiger Mann aus der Stadt Sandy im Norden Utahs mit einem runden Gesicht und meist einem breiten Lächeln unter dem Dreitagebart. Ein Draufgänger. Ein Haudegen, wie er im Buche stand. »Er war größer als das Leben«, sagte ein Kollege später in den Medien über ihn. »Körperlich einfach ein gewaltiger Kerl. Und immer gut drauf.« Auf einem Instagram-Bild posiert Cash mit einem T-Shirt auf dem steht: »Mach epische Scheiße«. Die Haut ist braun gebrannt, er lässt eine Muschelkette um seinen Hals durch die Finger gleiten. Aber Cash habe nicht nur ein kühnes Leben geführt – er habe auch seine Familie geliebt und seine Erfahrungen mit ihr geteilt.

Seine Kinder und seine Frau hatten ihn zuletzt im Dezember vor seinem Tod gesehen, als er nach Asien aufbrach. Er hatte seinen Job als Software-Verkäufer bei Adobe aufgegeben und verkündet, dass er ein Sabbatical nehmen und ein Buch über das Bergsteigen schreiben wolle. Der Everest sollte für Cash der letzte der erfolgreich bezwungenen »Seven Summits« sein – der sieben höchsten Gipfel auf den einzelnen Kontinenten. »Es war der grandiose Abschluss seiner Träume«, sagte seine Tochter Danielle Cook. Aber eben auch: das Ende seines Lebens.

Ein Grund dafür war sicher, dass in dieser Saison alles anders war. Präziser gesagt: genau so, wie es unweigerlich irgendwann hatte kommen müssen. Der Ansturm auf den Mount Everest hatte in den vorausgegangenen Jahren immer weiter zugenommen. Doch 2019 tummelten sich mehr unerfahrene Kletterer und unqualifizierte Guides als je zuvor am höchsten Berg der Welt. In Kathmandu wurde der Rekord von 381 Ausländergenehmigungen ausgestellt.

Und dann war das Wetter auch mehr als heikel. Ein außergewöhnlich wackeliger Jetstream verband sich mit Zyklon Fani, der in Südasien wütete. Das schmale Wetterfenster, das sich oft schon Anfang Mai am Everest öffnet, wurde damit noch enger. Als die Fixseile, die die Sherpas mittlerweile quasi durchgehend vom Basislager bis auf den Gipfel legen, am 22. Mai endlich angebracht waren, machten sich Hunderte jeden Morgen in aller Frühe auf. »Der Tod lag in der Luft«, notierte der US-amerikanische Everest-Chronist Alan Arnette.

Don Cash war eines der ersten Opfer. Nervös beobachtete sein Sherpa, wie sein Klient auf dem Gipfel hockend dahindämmerte. Er drängte ihn, nicht zu lange zu bleiben. Um 8.43 Uhr stand Cash endlich auf, um den Abstieg zu beginnen. Doch nach zwei Schritten kippte er ohnmächtig um. Jangbu holte einen anderen Sherpa aus dem Team hinzu. Gemeinsam gelang es ihnen, ihren Kunden zu reanimieren. Sie klinkten ihn zwischen sich an das Fixseil, das zum Gipfel führte. Meter für Meter schoben sie ihn hinab. Aber es ging nicht voran. Das Team von Pioneer Adventures war absichtlich früh gestartet, noch weit vor Mitternacht. Doch nun strömten ihnen die Massen entgegen. Ständig mussten sie auf dem schmalen Grat unterhalb des Gipfels innehalten, ständig mussten sie längere Pausen einlegen. Denn weder konnten sie mit Cash im Schlepptau den Entgegenkommenden ausweichen, noch war mehr als eine Handvoll von den Aufsteigenden technisch in der Lage, sich auszuklinken und den in Not Geratenen Platz zu machen, wie es versierte Bergsteiger eigentlich können sollten.

Am Hillary-Step, einer steilen, verschneiten Passage, war endgültig Schluss. Die beiden Sherpas setzten sich mit Cash in den Schnee und warteten. Eine halbe Stunde verging, eine, anderthalb. Der Sauerstoff drohte auszugehen. Kälte stieg in ihre Zehen und Finger. Don Cash begann zu zittern. Mehr als zweieinhalb Stunden mussten die drei ausharren, um die Aufsteigenden vorbeizulassen. Doch als sie diesmal aufstanden, brach Cash endgültig zusammen. Erneut versuchten die Sherpas, ihn wiederzubeleben, aber vergeblich. Es war auch nicht möglich, seine Leiche zu bergen. Auf 8 800 Metern Höhe ließen sie ihn zurück.

Seine Familie war damit einverstanden. Cash selbst hatte eine Erklärung unterschrieben, dass er, sollte er bei einer seiner Touren sterben, dort bleiben wolle. »Er sagte, er würde lieber auf einem Berg sein Leben lassen als in einem Krankenhausbett«, versicherte seine Tochter.

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