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Wer schweigt, stimmt zu

Wie wollen wir eigentlich leben? Nach zwei Jahren Pandemie, in zermürbten Gesellschaften, verformten Demokratien, polarisierten Debatten, erschöpfen Volkswirtschaften und eingeschränkten Freiheitsrechten, liegt diese Frage mitten auf dem europäischen Tisch! Ulrike Guérot hat ein wütendes Essay für all diejenigen geschrieben, die nicht so leben wollen wie in den letzten zwei Jahren; die einem Virus nicht noch ein demokratischen System hinterher schmeißen, und die ihre Freiheit nicht für eine vermeintliche Sicherheit verspielen wollen. Ein Buch gegen den transhumanistischen Zeitgeist, der mit einer als Lebensrettung maskierten Kontrollpolitik genau das verspielt, was das Mysterium des Lebens ausmacht.

Die ganze Welt schwankt zwischen Dystopie und Utopie, zwischen globalem Wahn und globaler Hoffnung, auf der einen wie der anderen Seite in dem Bewusstsein, Dass die Pandemie eine Zäsur ist und danach einiges anders sein wird.

Nüchtern kann festgestellt werden, dass der Traum von »Bella Ciao«, der großen Solidarität, wie sie vor letztes Jahr noch weltweit auf den Balkonen ausgerufen wurde, ausgeträumt ist. 2020 war für die Hochvermögenden das finanziell erfolgreichste Jahr in der Menschheitsgeschichte: Milliardäre konnten ihre Vermögen während der Pandemie um fünf Billionen Dollar steigern, was einem Anstieg um rund 60 Prozent innerhalb eines Jahres auf 13 Billionen Dollar entspricht. Für alle anderen bleiben 5 Prozent mehr Inflation (in der Türkei schon 78 Prozent), auch die FED, die US-Notenbank, macht sich schon Sorgen. Dazu steigende Energiepreise und etliche Menschen, die trotz Vollerwerbstätigkeit nicht mehr über die Runden kommen. Wie viele Leute Nach Zwei Jahren Maßnahmen ihre Existenz, ihr Geschäft, ihr Kleinunternehmen oder ihren Laden verloren haben, ist noch gar nicht beziffert. Dass der Mittelstand hinweggefegt wurde, dürfte eine Tatsache sein, und jeder, der ein paar Essays über die Ursprünge totalitärer Herrschaft gelesen hat, weiß, dass diese fast immer mit der Vernichtung des Mittelstandes beginnt.

Seit mindestens 20 Jahren schreiben Soziologen wie Wilhelm Heitmeyer, aber auch der liberale Lord Dahrendorf, von einem heraufziehenden »autoritären Kapitalismus«, bei dem meistens die Populisten gewinnen. Am Anfang stehen Auflösungserscheinungen und bürgerkriegsähnliche Zustände, von denen der »Sturm auf das Kapitol« oder die Fackelträger in Ostdeutschland einen Vorgeschmack bieten. Der Begriff des Civil War ist ebenfalls Topos der Politikwissenschaft und schon in deutschen Talkshows angekommen. Zum Beispiel bei Markus Lanz in der Sendung vom 4.1.2022, aus dem berufenen Mund von Sigmar Gabriel, den man sicher nicht als Schwätzer, Defätisten oder was auch immer abtun möchte und der dort von einer heraufziehenden »Phase ohne Weltordnung« sprach. Präziser gewesen wäre eine »Phase ohne staatliche Weltordnung«.

Nur um nicht Ursache und Wirkung zu verwechseln, sei an dieser Stelle kurz noch einmal drauf verwiesen, dass, bevor der KuKluxKlan, QAnon, verstrahlte Evangelisten oder radikalisierte Trumpisten die USA bevölkerten, eine nie gekannte soziale Verwahrlosung stattgefunden hat – und zwar seit den 1970er Jahren –, die plakativ als »The 1-Percent« bezeichnet wird. Joseph Stiglitz hat schon 2012 in The Price of Inequality argumentiert, dass ein System, das die soziale Gleichheit nicht achtet, nicht demokratisch bleiben kann, weil die Demokratie dann ungerecht ist und eine ungerechte Demokratie eben keine Demokratie ist. Ähnlich Pulitzer Prize Träger George Packer in Who has stolen the American Dream?

Kurz: dem religiösen oder jedem anderem Fanatismus geht eine soziale Krise voraus, das ist in den USA nicht anders als zum Beispiel im Nahen Osten. Wer keine Zukunft hat, radikalisiert sich und flüchtet sich in Ideologien. Neurologen können zeigen, dass es eine Art »Gerechtigkeitsgen« gibt: Verteilt man an Kinder im Kleinkindalter, also noch bevor sie zählen können, unterschiedlich viele Nüsse, werden diejenigen, die weniger bekommen, aggressiv.

Was dann passiert, ist sowohl vom ökonomischen Prozess her sowie politikwissenschaftlich ebenfalls bestens untersucht. In The economic origins of dictatorship beschreibt der Harvard-Wirtschaftsprofessor Daron Acemoğlu in sechs Querschnittsstudien über verschiedene Länder in Afrika und Lateinamerika, die im 20. Jahrhundert von der Demokratie in die Diktatur kippten, dass, wenn die sozialen Spannungen zu groß werden und die soziale Unruhe konsequenterweise steigt – siehe die Gelbwesten in Frankreich – und die Elite sich nicht mehr sicher fühlt, ein Umbruch bevorsteht. Kurz: wenn die Demokratie zu teuer wird: zu viele Arbeitslose mit Ansprüchen, kollabierende Pensionsansprüche, wie vor allem überall in Europa. Oder wenn es, im Sprachgebrauch eben jener Eliten, einfach zu viele »unnütze« Menschen gibt, die man wegen der digitalen Revolution in der Wertschöpfungskette nicht mehr braucht. Es könnte nämlich diesmal nicht gelingen, wie bei den vorangegangen sozioökonomischen Transformationen – im letzten Jahrhundert von der Agrar- zur Industrie- und dann von der Industrie- zur Dienstleistungsgesellschaft –, die unnützen Menschen alle in den neuen sozioökonomischen Prozess der Wertschöpfung einzugliedern, wenn die Roboter die Arbeit der zu teuren Menschen übernehmen. Die Roboter brauchen nur eine Steckdose und keine Kranken-, Arbeitslosen- oder Rentenversicherung. Das untere Fünftel, oft nicht mobil und unzureichend (aus)gebildet, wird, wenn eine solche Transformation wieder einmal ansteht, normalerweise über geschickte Erzählungen, die oft mit Angst funktionieren, instrumentalisiert. Das wusste schon Bucharin, als er im Zuge der russischen Revolution sagte, wenn die Bourgeoisie sich sicher fühlt, macht sie Demokratie. Sonst macht sie Faschismus. Nichts Neues unter der Sonne. Es passiert regelmäßig.

Die Dämmerung, wenn nicht das Absterben der Demokratie ist ebenfalls seit Längerem ein Bestseller-Topos der Politikwissenschaft. Buchtitel wie etwa „Death and Life of Democracies“ von John Keane oder „How Democracies die“ von Daniel Ziblatt und Steven Levitsky füllten die Büchertische in den Buchhandlungen, dienten aber anscheinend mehr dem Entertainment denn der politischen Reflexion darüber, wie man das gegebenenfalls noch ändern könnte. Eine der besten – weil zeitlosen – Analysen ist dabei nach wie vor das großartige Buch von Johannes Agnoli „Die Transformation der Demokratie“ von 1967. Dass die Demokratien heute überall wackeln, ist eine Binse, außer dass man in der Tagesschau nicht viel davon mitbekommt, weil ihre strukturelle Erosion keinen NewsWert hat. Neu ist lediglich, dass diese sozioökonomische Transformation im digitalen Zeitalter passiert, weswegen sie noch mal ganz anders sein dürfte als alle vorausgegangen. Und dass wir darüber alle in real time im Internet diskutieren, weswegen die gesellschaftliche Unruhe so groß ist. Denn diesmal bekommen es – im Gegensatz zu den Bauern in der russischen Steppe während der russischen Revolution – (fast) alle mit.

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