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Der gefährliche exekutive Unwillen

Mit der Corona-Pandemie wurden die schwersten Grundrechtseingriffe in der Geschichte der Bundesrepublik vorgenommen. Freiheitsrechte gerieten nicht nur durch politische Entscheidungen, sondern auch durch eine große gesellschaftliche Verunsicherung unter Druck. Wolfgang Kubicki widmet sich in seinem neuen Buch der Frage, wieso die Idee der Freiheit so schnell in Verruf geraten konnte, und welche Rolle die Politik, Medien und Gesellschaft in diesem Prozess gespielt haben. Er ruft dazu auf, die Grundlagen unseres Gemeinwesens nicht leichtfertig über Bord zu werfen, sondern gerade in der Krise auf die Stärke unserer verfassungsmäßigen Ordnung zu setzen. Nur eine Gesellschaft, die die Idee der Freiheit im Herzen trägt, kann so große Herausforderungen wie eine Pandemie wirklich bewältigen.

Im Laufe der Pandemie mussten wir bei vielen verschiedenen Gelegenheiten erleben, wie leichtfertig die Bundesregierung und einige Landesregierungen unsere Rechtsordnung übertraten und damit das fatale Signal aussendeten: Die verfassungsrechtlichen Leitplanken werden so lange akzeptiert, wie sie dem eigenen politischen Willen nicht im Wege stehen. So handelte es sich etwa bei der rechtlich fragwürdigen und vollkommen beliebig gezogenen »Corona-Leine« von 15 Kilometern um den eigenen Wohnort um nur ein Zeugnis dieser Denkweise. Ein gefährlicher Unwillen war erkennbar, sich energisch um eine Aufklärung über die Ansteckungswege zu kümmern oder ausreichende Begründungen für Grundrechtseingriffe zu geben. Stattdessen wurden oftmals Argumente vorgeschoben, neue Probleme präsentiert und der Raum der Freiheit damit stetig weiter verengt. Man konnte bisweilen den Eindruck gewinnen, Dass die eigene Unwissenheit als Argumentationsmittel für die Aufrechterhaltung oder gar Verschärfung von Maßnahmen diente. Rechtsstaatlich problematisch wurde es dann, als man rechtsetzende Mittel implementierte, um Dinge zu regeln, die nicht einmal mittelbar mit der Pandemiebekämpfung zu tun hatten. Als man also zu vermitteln versuchte, dass das Virus ab 22 Uhr in Restaurants gefährlicher sei als eine Minute zuvor, dann wurde nicht nur das Verständnis der Bürgerinnen und Bürger auf eine harte Probe gestellt. Vielmehr degradierte man die individuelle Freiheit und die Auslegung ihrer gesetzlichen Grundlage zu einer einfachen politischen Verfügungsmasse.

Besonders besorgniserregend war für mich, dass Vertreter der Regierungsseite plötzlich eine Begründungsumkehr bei Freiheitsrechten betrieben. Eigentlich sieht unsere Verfassung vor, dass Beschränkungen der Grundrechte einer Rechtfertigung bedürfen. Demokraten haben die verfassungsmäßige Aufgabe, für das größtmögliche Maß an Freiheit zu kämpfen. Nun aber sollten sich Bürgerinnen und Bürger plötzlich rechtfertigen, wenn sie ihre Freiheitsrechte wahrnehmen wollten.

Dabei hatten Verfassungsrichter schon früh ein klares Stoppschild gesetzt. In einem bemerkenswerten Eilentscheid befand der Verfassungsgerichtshof des Saarlandes bereits Ende April 2020, dass sich die Exekutive schon im Klaren sein müsse – um es etwas salopp auszudrücken –, wer bei Freiheitsbeschränkungen Koch und wer Kellner ist. Die Richter störten sich bei der zugrundeliegenden Corona-Verordnung des Landes vor allem daran, dass Bürgerinnen und Bürger, die das Haus verlassen wollten, einen triftigen Grund gegenüber den Behörden glaubhaft machen mussten. Es sei »nicht zu erklären, warum ein beliebiges, ›freies‹ Verlassen Der Eigenen Wohnung ohne Ziel […] verboten wird, während es mit dem Ziel, ein Ladengeschäft ›aufzusuchen‹ – ohne einen zur Deckung des Lebensbedarfs notwendigen Kauf anzustreben – erlaubt wird«.

Das Gericht sah ferner die Gefahr, dass man »sich mit dem Verlassen der eigenen Wohnung unmittelbar einem ›Generalverdacht‹ aussetzt und jederzeit einen triftigen Grund glaubhaft machen können muss. Ungeachtet der von der Verordnung nicht näher geregelten Frage, welche Mittel der Glaubhaftmachung zulässig, aber auch ausreichend sind, muss der Bürger die Wahrnehmung elementarer Grundrechte jederzeit – vergleichbar einer Umkehr der Beweislast – gegenüber dem Staat rechtfertigen.«

Mit anderen Worten: Dass unbescholtene Bürger nun gegenüber staatlichen Stellen begründen mussten, dass sie ihre Freiheiten wahrnehmen wollten, war mit unseren verfassungsrechtlichen Grundlagen nicht in Einklang zu bringen.

Ich will diese überschießende Maßnahme der saarländischen Landesregierung nicht gutheißen, sie ist aber im Lichte der damaligen Situation wahrscheinlich noch entschuldbar. Schließlich war die pandemische Lage so neu und so dramatisch, dass auch die Exekutive ihren Weg finden musste. Im Laufe der Monate wuchs jedoch die Erfahrung und obergerichtliche Eilentscheidungen korrigierten in der kommenden Zeit durchschnittlich zehn exekutive Maßnahmen pro Monat. Trotz dieser Entwicklung wurde die Anmaßung der Exekutive in diesem Zusammenhang jedoch nicht kleiner, sondern steigerte sich zum Teil sogar ins Unverschämte.

Ein Beispiel: Im Oktober 2020 wurde der Regierende Bürgermeister Berlins Michael Müller in einer Pressekonferenz überraschend emotional. Angesichts der explodierenden Corona-Zahlen seiner Stadt legte er in einer Pressekonferenz ungebremst offen, woran es einigen Regierungschefs in dieser Pandemie mangelte: an Rechtsverständnis. Vor dem Hintergrund von Klagen verschiedener Kneipenbesitzer gegen die vom Berliner Senat verfügte Sperrstunde sagte er wörtlich: »Meine Sorge ist, dass sich einige auch noch das letzte Stückchen Egoismus einklagen werden. […] Aber es ist kein Erfolg, sich ein oder zwei Stunden mehr Freiheit zu erstreiten, […] weil es eben doch wieder dazu verleitet, in größeren Runden zusammenzukommen […] und wieder neue Infektionsketten in Gang zu setzen und wieder andere Menschen zu gefährden.«

Lehnen wir uns einmal zurück und denken kurz über diese bemerkenswerten Sätze nach. Laut Michael Müller handle es sich bei demjenigen, der sein Recht vor einem ordentlichen Gericht erstreitet, um einen gefährlichen Egoisten. Auch einem Regierenden Bürgermeister steht ein wenig Selbstreflexion gut an. Denn nicht derjenige, der in einem Rechtsstaat vor Gericht Recht bekommt, hat etwas Falsches getan, sondern diejenigen, die ihm dieses Recht nehmen wollten. Es wäre für das Ansehen unserer Rechtsordnung sicher hilfreich, würden manche Exekutivvertreter nicht ihre eigenen moralischen Kategorien über das Gesetz stellen. Denn ein moralisch begründetes Recht über dem tatsächlichen Recht gibt es nicht. Wer sollte auch darüber richten? […]

Unsere Verfassung sieht auch ein Recht auf Unvernunft vor. Es wird durch Artikel 2 Absatz 1, die »allgemeine Handlungsfreiheit«, abgeleitet und gewährleistet, dass man grundsätzlich tun und lassen kann, was anderen nicht schadet. Die dort enthaltene Zeile »Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt« ist der Kernsatz der Freiheit. Er knüpft an das positive Menschenbild der Aufklärung an und sorgt dafür, dass der Staat gegenüber freien und mündigen Bürgern nicht allzu übergriffig werden kann. Der Bürger ist nun mal kein Untertan – auch nicht in einer pandemischen Situation.

Vor diesem Hintergrund war die Einlassung des Bundesgesundheitsministers aus dem April 2021, es gebe keinen Anspruch auf Partys, auch nicht für Geimpfte, schlicht falsch. Den gibt es nämlich – gerade für diejenigen, die nicht mehr zum Infektionsgeschehen beitragen. Infektionsschutz ist Gefahrenabwehr. Geht von Menschen keine Gefahr aus, können ihre Grundrechte grundsätzlich auch nicht mehr eingeschränkt werden. Weder die Bundeskanzlerin noch Jens Spahn sind zu einem solchen Schritt befugt.

Dass Bundesminister dennoch meinten, mit der Kraft der Behauptung derart weit in die individuelle Lebensführung eingreifen zu dürfen, war für mich eine alarmierende Entwicklung. Denn es ist für den Fortbestand unserer verfassungsmäßigen Ordnung immens wichtig, dass in dieser Frage keine Pflöcke eingerammt werden, auf die man sich später nach Corona – in jeder anderen tatsächlichen oder vermeintlichen Gefahrenlage – stützen kann. Wenn die Rechtfertigungsumkehr Schule macht, dann wird unser Grundgesetz mindestens perforiert, wenn nicht gar auf lange Frist komplett entwertet. Gemäß dieser Logik muss die von der Exekutive präsentierte Gefahr nur groß genug sein. Der Freiheitsgrundsatz, der für unsere Verfassungsmütter und -väter heilig war, würde damit ins Belieben exekutiver Entscheidungsgewalt gestellt werden. Wer die Freiheit liebt, kann diese schrittweise verlaufende Entwicklung nur mit großer Sorge betrachten.

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