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„Nur Schafe lassen sich zählen”

Daten werden ständig und überall gesammelt – und das wird heute viel weniger als ein Problem gesehen als vor einigen Jahrzehnten. Inwieweit wird dadurch nicht nur unsere Privatsphäre, sondern auch die Demokratie angegriffen? Und wie verändern sich die Medien dadurch? Diesen und weiteren Fragen gehen Michael Steinbrecher und Günther Rager in ihrem Buch „Wenn Maschinen Meinung machen“ auf den Grund. Ein Auszug – der vor Augen führt, wie sich unser Umgang mit persönlichen Daten verändert hat.

Schauplatz Berlin, 1987. Menschen gehen – wie so oft in den Achtzigern – auf die Straße. Protestiert Wird gegen das Ansinnen der Bundesregierung, wieder eine Volkszählung durchzuführen. Zehntausende versammeln sich, nicht nur in Berlin. „Zählt nicht uns, zählt Eure Tage“, wird skandiert. Menschen, die zum Boykott der Volkszählung aufrufen, werden in diesen Tagen strafrechtlich verfolgt. Es gibt Razzien. In Dortmund schreiben Demonstranten vor dem Bundesliga-Heimspiel des BVB „Boykottiert und sabotiert die Volkszählung“ in metergroßen Lettern auf den Rasen des Westfalenstadions. Mit einer Farbe, die sich nicht entfernen lässt. Es beginnt die hektische Suche nach einer angemessenen Reaktion. Nach Rücksprache mit Bundespräsident Richard von Weizsäcker wird der Satz auf dem Rasen ins Gegenteil verkehrt: „Der Bundespräsident: Boykottiert und sabotiert die Volkszählung nicht.“ Die Bundesregierung startet mit großem finanziellem Aufwand eine Werbekampagne. Das Ziel: die Bürger für die Volkszählung zu gewinnen. Das Bundesverfassungsgericht hatte sich bereits mit dem Thema beschäftigt. Der Begriff der „informationellen Selbstbestimmung“ wird geprägt. Der Sinn für die Privatsphäre der Bürger geschärft. Nachdem die Volkszählung 1983 ausgefallen war, wurde sie 1987 ein letztes Mal durchgeführt. In den Köpfen aller Demonstranten, die sich in Berlin und anderen Städten dagegen wehren, dem Staat Daten preiszugeben, bleibt vor allem folgender Satz in Erinnerung, der in großen Buchstaben bei der Demonstration auf Bannern in die Höhe gestreckt wird: „Nur Schafe lassen sich zählen.“

Dreißig Jahre später hat sich das Bewusstsein für die Preisgabe persönlicher Daten offensichtlich komplett gewandelt. Die Datensammler kommen anders daher. Es sind keine Beauftragten der Bundesregierung, die ganz analog mit einem auszufüllenden Bogen von Haushalt zu Haushalt ziehen. Gegen die Datenfülle, die wir heute (oftmals unwissentlich) preisgeben, sind die abgefragten Details wie „Name, Beruf, Familienstand und Wohnort“ der achtziger Jahre geradezu ein Witz. Und doch regt sich kaum Widerstand. Im Gegenteil: In den achtziger Jahren mussten die Mitarbeiter der Stasi noch mit hochgeschlagenem Mantelkragen um die Häuser ziehen und Wanzen in Wohnungen anbringen, um Bürger auszuspionieren. Heute liefern wir all diese Daten freiwillig. Beruf, Freunde (mit Fotos zur Gesichtserkennung), Hobbys, politische Weltanschauungen, Konsumverhalten, Interessen, Hinweise auf unsere Gesundheit und das Intimleben. Häufig tauschen wir diese Daten gegen vermeintlich kostenlose Hilfsangebote, die unser Leben bequemer machen. Kostenpflichtige, aber datengeschützte Angebote werden deutlich seltener genutzt.

Selbst die Enthüllungen durch Edward Snowden, der die Weitergabe dieser umfassenden Daten an Regierungen aufdeckte, bis hin zur Kameraüberwachung durch Smartphone und Laptop, führten in Deutschland kaum zu öffentlichen Protesten. Zu „smart“ ist das, was uns die digitale Welt bietet. Und wer möchte nicht „smart“ sein? „Smart Homes“, „Smart Cities“ – alles wird digitalisiert. Unabhängig davon, wie wir zu dieser Entwicklung stehen, zeigt ein Blick auf die letzten dreißig Jahre wieder einmal, dass sich Wertvorstellungen in relativ kurzer Zeit ändern können. Etwas, gegen das wir heute noch protestieren oder das wir für undenkbar halten, kann morgen schon Realität sein. Selbstverständliche, kaum mehr hinterfragte Realität. Aber was ist schon undenkbar? Vor dreißig Jahren skandierten Zehntausende Menschen noch „Nur Schafe lassen sich zählen“. Heute warten Millionen auf das neueste Smartphone-Modell, um noch mehr Daten abzuliefern. Wird ein Grundpfeiler des demokratischen Systems geopfert, weil es dafür eine neue, „smartere“ Lösung gibt?

Welche Macht räumen wir Maschinen und Algorithmen heute und in Zukunft ein? Wir können derzeit nicht wissen, wie sie funktionieren. Aber wir wissen, dass sie unsere Meinung, unser Kaufverhalten, unser Leben beeinflussen. Ist das, was wir derzeit erleben, ein Angriff auf unsere grundrechtlich geschützte Privatsphäre? Ein Angriff auf die Demokratie? Und wenn wir das befürchten sollten, tun wir etwas dagegen? Schützen wir unsere Daten, wo wir es könnten, oder tauschen wir sie gegen die Bequemlichkeit des Alltags ein? Und sollten die großen Konzerne, die sich so häufig Transparenz auf die Fahnen schreiben, selbst zu mehr Transparenz und zur Offenlegung ihrer Algorithmen verpflichtet werden? Eine Diskussion, die intensiv geführt werden muss.

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