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Hinter uns die Zukunft

Thomas Freitag, Schauspieler, Kabarettist, Autor, hat sich als glänzender Unterhalter, scharfsinniger Parodist und Beobachter des alltäglichen Wahnsinns bei Hunderten von Auftritten ein großes Publikum erspielt. Und dies nicht nur in seinen Glanzrollen als Willy Brandt, F.J. Strauß, Helmut Kohl oder Marcel Reich-Ranicki. Jetzt, am Vorabend seines 70. Geburtstags, blickt er staunend auf sein Leben zurück: auf eine Kindheit in der deutschen Provinz, auf erste Erfolge als Schauspieler, die Sternstunden des Fernsehens, Kollegen und die Zukunft unserer Gesellschaft. Ein privates und politisches Kaleidoskop voller Geschichten und Anekdoten. Ein Auszug.

Zu dieser Zeit wohnte ich noch bei meinen Eltern in Backnang. Einst stolze süddeutsche Gerberstadt, die ganz in der Nähe meiner neuen Wirkungsstätte lag. Das Quartier im Heim kam mir insofern gelegen, weil mein Dienst schon so früh begann und ich morgens schwer aus dem Bett kam. Dennoch war ich froh, auch immer wieder im Elternhaus übernachten zu können.

Hier in Backnang wuchs ich auf. Ging in den Kindergarten und zur Schule, war in Jugendorganisationen aktiv, verdiente mir mein erstes eigenes Geld durch Zeitungaustragen und machte als Halbwüchsiger in örtlichen Vereinen schon erste Gehversuche als Unterhaltungskünstler. Schließlich absolvierte ich hier meine Lehre zum Bankkaufmann. Erlebnisse aus meiner frühen Kindheit hingegen kenne ich nur vom Hörensagen. Schon bei meiner Geburt soll es zu einem kleinen Eklat gekommen sein. Mit weitreichenden Folgen, wie ich später feststellen sollte.

»Der hat ja schon wieder so einen Zipfel«, rief meine Mutter enttäuscht aus, als mich der Oberarzt samt Schwester meinen Eltern am Kindbett im Krankenhaus präsentierte, »den können Sie gleich selbst behalten.« Auch die Begeisterung meines Vaters soll sich bei meinem Anblick in Grenzen gehalten haben, war er es doch, der nach drei Buben jetzt doch bitte schön endlich gerne ein Mädchen gehabt hätte, wie es mir später meine Mutter erzählte. Und mein großer Kopf habe ihr bei meiner Geburt auch schwer zugesetzt.

Derart willkommen geheißen, erblickte ich an einem Samstagnachmittag im Juni 1950 kurz nach 16 Uhr in Alsfeld in Oberhessen das Licht der Welt. Natürlich war die Enttäuschung meiner Eltern nur von kurzer Dauer. Denn selbstverständlich war ich auch als Junge von Herzen willkommen. Es war halt wie beim Kindergeburtstag. Man hat sich einen Roller gewünscht und bekommt ein Fahrrad. Das Leben ist doch ein Geschenk, und in erster Linie war ich ja ihr Kind und dazu sichtlich gesund. Ein Wonneproppen, wenn ich mir heute alte Fotos anschaue. Entsprechend respektlos nannten mich meine Brüder später dann auch Dicki, obwohl ich Thomas hieß. Thomas Martin.

Meine beiden älteren Brüder heißen Klaus und Peter. Zwischen diesen beiden gab es noch einen weiteren Bruder. Einen kleinen Rainer. Er starb schon nach drei Monaten an der Krankheit Ruhr, als meine Eltern auf der Flucht waren. Nach Westen. Noch war der Zweite Weltkrieg nicht zu Ende, die Überlebensmühsal groß und die Zukunft ungewiss.

Ich kenne das alles, wie gesagt, nur aus Erzählungen. Bezeugt auf alten Schwarz-Weiß-Fotos. Filmen und Büchern. Wie mein Bruder Peter war ich ein Nachkriegskind. In eine Zeit geworfen, in der man über diese Klassifizierung nicht näher nachdachte. Nachkriegskind im Jetzt und Hier. Und was interessierte die Deutschen Jahre nach dem Dritten Reich ein Krieg, der weit weg war. Wir hatten doch endlich Frieden. Den Frieden, über den meine Kollegin Lore Lorentz Jahrzehnte später singen sollte: »Frieden ist Krieg, der woanders ist.«

Die Menschen blickten nur nach vorn, denn hinter ihnen lag das Grauen. Mein Vater war Richtfunkingenieur und versuchte sich nach dem Zusammenbruch mit einem Partner in Alsfeld zunächst mit einem Radio- und Fernsehgeschäft. Ein kühnes Unterfangen in dieser Zeit, denn wer kaufte sich damals so kurz nach dem Krieg schon ein neues Radio, Schallplatten oder gar einen Fernseher. So lag das Hauptgeschäft wohl auch mehr im Reparieren alter Radiogeräte und Ähnlichem. Irgendwie musste man überleben. Auf Veranstaltungen installierte er auch hin und wieder die Übertragungsanlagen, weshalb wir erstaunlich früh ein Auto hatten. Einen gebrauchten Opel. Der hatte es in sich, wie ich aus den Familiengeschichten weiß.

Ganz vage sehe ich Bilder aus jener Baby-Kind-Zeit vor mir. Da gibt es einen großen Schäferhund, vor dem ich Angst hatte. Der lag angekettet im Hof und gehörte dem Schreinermeister Weppler, bei dem wir mit im Haus wohnten. Ganz oben unterm Dach. Gegenüber war ein kleiner Park mit einer Eisdiele. Die gehörte einem gewissen Herrn Lersch, der mir, dem kleinen Steppke, vorsichtig die Eistüte runterreichte. Und ich habe mit dem Sohn des Bürgermeisters im Gewölbe des Rathauses mit Wiking-Autos gespielt.

Später wurden mir von der Familie Sachen angedichtet, die ich heute weder widerlegen noch bestätigen kann. Darunter so böswillige Behauptungen, dass ich schon mit vier Jahren nach Markt­platzfesten die Reste einzelner Bierkrüge leergetrunken oder meinem Vater im Auto – bei voller Fahrt – von hinten seine Baskenmütze über die Augen geschoben hätte. Was soll ich dazu sagen? Alles nur üble Nachrede.

Guido, wie mein Vater mit Vornamen hieß, war ein ambitionierter Mann. Er wuchs in Berlin und Cloppenburg auf und verbrachte einen Teil seiner Kindheit in Posen, der Heimat seiner Eltern. Seine streng katholische Erziehung ließ er auch uns Kindern angedeihen. Wir gingen sonntags zur Kirche, und vor den Mahlzeiten wurde bei uns zu Hause gebetet, und bevor er das Brot anschnitt, machte er auf der Rückseite des Brotlaibs mit dem Messer ein Kreuz. Er engagierte sich im Kirchengemeinderat sowie in der Politik. So baute er damals in Alsfeld – im roten Hessen! – die CDU mit auf und wurde sogar Stadtverordnetenvorsteher.

Aber getrunken hat er mit den Sozen. Die Unierten waren ihm in Gesellschaft wohl zu langweilig und wahrscheinlich auch zu knochen-konservativ. Ich habe mich später oft gefragt, warum er damals eigentlich nicht in die SPD eingetreten ist, denn von seinem ganzen Wesen her war er eher ein klassischer Sozialdemokrat. Stand ihm da seine katholische Erziehung im Weg?

»Wir müssen den Krieg verlieren, denn nach den Juden sind die Katholiken dran«, soll er zu meiner Mutter einmal gesagt haben. Da war der Irrsinn der Nazis, die Weltherrschaft erringen zu wollen, schon in vollem Gange. Meine Mutter erzählte mir, dass sie damals über seine Äußerung entsetzt war. Sie war 14 Jahre jünger als mein Vater und somit sicher schon ganz anders vom Dritten Reich geprägt als er. Wenngleich sie ebenfalls aus einem katholischen Stall kam, wo man den Herrn Hitler keineswegs mochte. Aber das sollte das Nachkriegskind Thomas erst alles viel später erfahren.

Als ich fünf war, zogen wir dann nach Süddeutschland. Nach Backnang. Keiner von uns wusste, wo das lag, und meine Brüder dachten, es ginge nach China. In Backnang hatte Telefunken seinen Betrieb wieder aufgenommen. Als Richtfunkingenieur wollte mein Vater dort in seiner alten Branche Fuß fassen.

Das Radiogeschäft lief ohnehin nicht gut, und wir hatten Schulden. Für einen Familienvater mit drei Kindern in diesen Zeiten kein Zuckerschlecken. Unser Auto brachte auch nicht mehr viel. Logisch.

Ich höre noch meine Mutter, wie sie erzählte, dass an der Klapperkiste nichts funktionierte. Beim Rechtsabbiegen musste sie immer den Arm raushalten, regelmäßig verschwand beim Fahren der Tacho im Armaturenbrett, und die Bremsen waren auch nicht in Ordnung. Einmal soll mein Vater über die Autobahn gefahren und auf die Abfahrt nach Hause in die Stadt abgebogen sein. Aber die Bremsen versagten. Er schilderte später, wie er mit voller Geschwindigkeit auf zwei Rädern durch die Abfahrt düste, vorbei an einem verdutzten Polizisten über eine Kreuzung donnerte und anschließend einen Hang hinaufrollte in der Hoffnung, die alte Kiste so zum Stehen bringen zu können. Sein Pech war nur, dass der Anstieg zu kurz war und es gleich wieder bergab ging. Bis sich ihm schlussendlich ein alter Mülleimer in den Weg stellte. Im Gegensatz zum Mülleimer hatte unser alter Opel die Fahrt überlebt.

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