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Edgar Lawrence Doctorow: In Andrews Kopf

Tags: andrew

 

Der 1931 als Sohn russisch-jüdischer Einwanderer in New York geborene und letztes Jahr verstorbene E.L. Doctorow-seine beiden Vornamen verweisen auf Edgar Allan Poe und D.H. Lawrence-gehörte in Amerika zu den großen Schriftstellern der Alten Generation wie etwa Philip Roth, John Updike, Susan Sontag, Saul Bellow oder DeLillo. Seine früheren auch verfilmten Romane Ragtime und Billy Bathgate werden noch heute in der ganzen Welt bewundert, diese weit ausholenden Zeitgemälde, in denen er Fiktion mit historischen Fakten und Personen raffiniert und gekonnt vermischt. Was so etwas wie sein Markenzeichen wurde. Und er hat außer dem Literatur-Nobelpreis die bedeutendsten Preise erhalten.

E.L.Doctorow
Bildquelle:www.kiwi.de,
Gasper Tringale

 

In Andrews Kopf(Originaltitel Andrew’s Brain) hat der Leser gleich zu Anfang einiges zu sortieren und einzuordnen: Der Erzähler, so erfahren wir, der von seinem Freund Andrew, dem Kognitionswissenschaftler, erzählt, ist Andrew selbst. Und er erzählt seine Geschichte einem Gegenüber, einem Psychiater, der als Projektionsfläche dient, der nicht weiter als Charakter entwickelt wird, außer, dass er manchmal Fragen stellt und als Stichwort-Geber fungiert und auch ab und zu an Andrews Berichten zweifelt(Wie der Leser?)

Der unzuverlässige Erzähler

Andrew, der im Laufe des Buches immer wieder von der ersten in die dritte Person wechselt, ist offenbar ein Traumatisierter, wie ein Blinder im fallenden Schnee, dem eine Rede-und Schreibtherapie verordnet wurde. Ein derartiges Setting ist ja in der Literatur nicht unbekannt (vgl. z.B.  Max Frisch: Stiller) und bedient ein amerikanisches Klischee: Wer Probleme hat, heuert sich einen Shrink an. Andrew, als betrachte er sich als ein Fremder, beginnt seine Schilderung damit, wie er mit einem Baby auf dem Arm vor der Tür seiner Exfrau Martha steht; seine neue junge Frau Briony, die Mutter des Kindes  ist gestorben und er kann  die Situation nicht mehr bewältigen  und braucht Hilfe.

Marthas riesiger Ehemann, der Andrew einen Täuscher nennt, Andrew der Täuscher,  ist davon natürlich nicht begeistert und wir erfahren von Andrews “Talent”, bei allem, was er anfängt, eine Spur des Verderbens hinter sich herzuziehen.

Und Andrew erzählt, monologisiert, schweift ab, ohne sich an eine lineare zeitliche Abfolge zu halten, gibt zwischendurch etwas an mit neuen Erkenntnissen der Kognitionswissenschaft, Ihr Gebiet ist die Seele, meins das Gehirn, sagt er. 

Glauben Sie mir, Sie werden arbeitslos. Was können wir, die wir vom Baume der Erkenntnis gegessen haben, anderes tun, als uns zu biologisieren? Schmerzen vertreiben, Leben verlängern…

Andrew berichtet über sein großes Unglück, dass er seinem ersten Kind, das er mit Martha hatte, eine von der Apotheke falsch gelieferte Arznei gab, eine Handlung, an deren Folgen das Baby dann starb. Martha war darauf unheilbar beschädigt,  konnte ihren Beruf als Klavierlehrerin nicht mehr ausüben. Und jetzt ist auch noch Andrews zweite Frau tot. Und Andrew nimmt die ganze Schuld auf sich, das scheint seine Bewältigungsstrategie zu sein. Andrew, der zwischen Schuldanerkenntnis, Trauma, Verdrängungen und Depressionen hin-und hergeschüttelt wird, schildert eindringlich und manchmal widersprüchlich das weitere Geschehen. 

Der ständige Wechsel in die dritte Person zeigt, dass Andrew am liebsten ein anderer wäre, er würde aus seiner Haut schlüpfen, wenn er könnte, alles ungeschehen machen. 

Nach dem Tod der Tochter und der Trennung von Martha  begibt Andrew sich auf die Flucht, das Gehirn zugedröhnt von der Erkenntnis, dass man etwas Unabänderliches getan hat. An einem staatlichen College am Fuße des Wasatch-Gebirges in Utah unterrichtet er einen neurowisssenschaftlichen Grundkurs und verliebt sich in die junge Mathematikstudentin Briony. Na, dachte ich beim Lesen, diese Professor-Studentin-Geschichte ist aber auch schon toterzählt (siehe z.B. Philip Roth: Der Professor der Begierde), doch hier wird gezeigt, bei allem “Talent” zum Unglück und zu Widrigkeiten und Pannen, dass Andrew durchaus befähigt ist, Glück zu empfinden. Im Leben mit Briony.

Glück besteht darin, in der Alltäglichkeit des Lebens zu stehen und nicht zu wissen, wie glücklich man ist. Wahres Glück kommt davon, dass man glücklich ist, es ist eine animalische Heiterkeit, irgendwo in der Mitte zwischen Zufriedenheit und Freude, eine Beständigkeit des Ichs an seinem Platz in der Welt.

Aber gerade diese Beständigkeit des Ichs geht Andrew ja völlig ab, und so ist es wohl hauptsächlich Wunschdenken, das ihn leitet, als er mit Briony nach New York zieht, wo er Lektor ist für einen Lehrbuchverlag. Andrew gibt uns  herrliche Beschreibungen vom West Village, geradezu lyrische, ja euphorische Ausbrüche an manchen Stellen des Romans, typisch für Manisch-Depressive Erkrankte, und so kam mir Andrew zeitweise auch vor: wie ein Patient mit extremen Stimmungsschwankungen. Ein abnorm depressiver neurowissenschaftlicher Tollpatsch, so bezeichnet er sich einmal selbst, was der Psychiater gerne aufnimmt und als Selbsthass einstuft.

Als das Baby da war, schickte der alte italienische Bäcker uns eine Torte, von den Koreanern kam ein Obstkorb, alle alten Damen aus der Nachbarschaft hatten Brionys Schwangerschaft verfolgt, die werdende junge Mutter war überall bekannt, und als sie an einem Frühlingstag zum ersten Mal mit Willa nach draußen ging, die in einem Tragetuch an ihrer Brust lag, tauchten ständig Leute auf, als hätten sie nur darauf gewartet, es wurde so etwas wie eine königliche Prozession, Mutter und Kind…

Das ist leicht hingesagt im Hochgefühl der Manie. Doch an 9/11 2001, beim Training zum bevorstehenden New-York-City Marathon,  kommt Briony um. Verzweifelt und völlig überfordert bringt Andrew das Baby zu seiner Exfrau Martha und ihrem riesigen Ehemann, und es sieht aus, als könnte das Kind  einen “Ersatz” darstellen für Martha für die  durch das Medikamentenunglück verstorbene Tochter. Andrew wirkt wie einer, der sich im Leben verlaufen hat, es aber nicht merkt.

Es passiert noch viel Erstaunliches, um nicht zu sagen Groteskes, viele Anspielungen auf Literatur und  Politik und Zeitgeschichte sind nach Doctorowscher und postmoderner Manier auch in diesen Roman verwoben.  Mark Twain, von Doctorow sehr geschätzt, scheint im Hintergrund manchmal verschmitzt zu lächeln, wenn auch noch George W. Bush mit seinen Ministern Chaingang und Rumbum auf der Bühne erscheinen.  Andrew gibt zwar dem Leser den Eindruck, als hätte er ein Konzept realistischer Darstellung, aber der Leser zweifelt , leidet mit, glaubt ihm dann dann wieder, lacht und trauert: was ist das nur für ein genialer Meister, dieser E.L. Doctorow. Da erinnert sich Andrew an eine Europa-Tour als Yale-Student, an die Fehlgeburt einer Freundin, belehrt seinen Psychiater (und den Leser) über Schwarmgehirn und Staatenhirn, kommt unvermittelt auf Wittgenstein oder Walt Whitman zu sprechen, um im nächsten Satz Emerson zu kritisieren. Das alles auf höchst spannende und unterhaltsame Weise. Da nicht ohne Weiteres zu erkennen ist, was an den Darstellungen Andrews Realität ist, was erfunden oder konfabuliert, bietet der Roman vielerlei mögliche Lesarten an:

Wir können an das amerikanische Standardmodell denken der Problembewältigung, an eine Rede-und Schreibtherapie des traumatisierter Andrew, der sich sozusagen neu erfindet, um überhaupt weiterleben zu können und nach den  durchstandenen Dramen nicht in totaler Versteinerung zu enden.

Wir könnten erkennen, dass, wenn Welt-und Sinnhaltigkeit im persönlichen Erleben verloren sind, die Kognitionswissenschaft oder auch eine andere Wissenschaft nicht weiterhelfen. Denn auch Andrew kommt mit seiner Wissenschaft schnell an Grenzen:

Wer Wissenschaft betreibt, muss tapfer sein. Es hat mich sehr mitgenommen, als experimentell nachgewiesen wurde, dass das Gehirn eine Entscheidung treffen kann und wir uns dessen erst Sekunden später bewusst werden… Es werden noch raffiniertere Experimente kommen, und dann ist erwiesen, dass der freie Wille eine Illusion ist. 

Man kann den Roman ebenso lesen als Zeitsatire auf die Neuro-Wissenschaften, die mit angeblich so bahnbrechenden Erkenntnissen in erster Linie mehr Fragen aufwerfen, als sie beantworten. Tatsächlich streiten ja heutzutage verschiedene Wissenschaften darum, wer denn die Deutungshoheit besitze zum Thema  Bewusstsein und Welterklärung.

E.L. Doctorow hat in seinem letzten Roman gezeigt, welch artistische erzählerische Möglichkeiten er beherrscht; mit Humor, Ironie und Schlitzohrigkeit gewürzt, nicht so weit ausholend wie in Ragtime zwar, mit weniger Personal, dafür umso konzentrierter, beschreibt er den Menschen auf der Suche , nach sich, nach Orientierung, nach dem Glück. Nichts Besonderes, oder? Das Besondere ist die kunstvolle Art des Erzählten, die in der Diktion und Struktur des Textes direkt fühlbare Suchbewegung und Ratlosigkeit Andrews über das ungleichgewichtig verteilte Leid. Und die brillante Schreibweise. Es ist ein positives Buch. Auch wenn Andrew als Vater und Ehemann versagt hat,  berichtet er am Ende von  Mark Twain, wie er Geschichten erfindet, damit seine kleinen Mädchen besser einschlafen. Wie er ihr Beschützer ist und die Welt ist ein behaglicher und sicherer Ort, wie sie sich, wenn sie erwachsen sind, an seine Geschichten erinnern und lachen vor lauter Liebe zu ihrem Vater.Wie das seine Erlösung ist.

Und damit wird auch deutlich: wir sind nicht nur ein Produkt unseres Gehirns, einer riesigen Ansammlung von Nervenzellen, das wäre eine schreckliche Vorstellung von unserem Selbst, gefangen in unserem Kopf. Vielmehr ist das Bewusstsein  ein mit der Welt verbundener dynamischer Vorgang,  das verdeutlicht uns Doctorow im oben angeführten abschließenden Satz dieses wunderbaren Romans: die Welt, die uns umgibt, ist keine Illusion.

Buchcover, Verlag Kiepenheuer & Witsch

 

 

 

 

 

Titel der Originalausgabe: Andrew’s Brain
Aus dem amerikanischen Englisch von Gertraude Krueger
ISBN: 978-3-462-04812-4
Erschienen am: 17.08.2015
208 Seiten, gebunden

Einsortiert unter:Amerikanische Literatur, Literaturblog

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