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Eine Gesellschaft auf dem Ego-Trip

Das Schlimmste am Neoliberalismus ist, dass er die Herzen und Hirne der Menschen vergiftet, schreibt Heike Leitschuh in ihrem Buch „Ich zuerst!“. Immer mehr Menschen denken nur noch an sich, an die Karriere und die eigenen Bedürfnisse. In der Politik und den Medien wird das Problem vernachlässigt und in seiner Tragweite bislang überhaupt nicht erkannt. Höchste Zeit also gegenzusteuern, denn wo wir auch hinsehen, überall machen sich die Ichlinge breit. Ein Kommentar – und ein Hinweis auf das TV-Interview mit Heike Leitschuh am kommenden Donnerstag, 27.9., in der Sendung „Hauptsache Kultur“ im hr Fernsehen.

 

Ich habe unzählige Beispiele gesammelt, die zeigen, Dass die Menschen weniger empathisch und unsolidarischer, zumindest ruppiger, unaufmerksamer und gedankenloser werden. Manche Geschichten sind so schauerlich, dass man es nicht glauben mag. Wie der Fall von vier Bankkunden in Essen, die vor dem Automaten über einen kollabierten alten Mann hinwegsteigen, um ihre Geldgeschäfte zu erledigen. Keiner hilft. Immerhin landen drei von ihnen vor Gericht und werden empfindlich bestraft. Nun aber kommt es noch schlimmer: Am 19. September las ich in der Zeitung, dass in Bremen etliche Gaffer Rettungskräfte anpöbelten und aktiv behinderten, die einem psychisch Kranken helfen wollten, der sich auf offener Straße angezündet hatte. Alle wollten sie Fotos und Filme machen und sich die einzigartige Chance, jemanden dabei aufzunehmen, wie er sich bei lebendigem Leibe verbrennt, nicht nehmen lassen. Damit könnte man ja in den sozialen Netzwerken ganz schön Furore machen. Mehr Polizisten mussten gerufen werden, um die Situation in den Griff zu bekommen. Der Mann wurde mit schwersten Verbrennungen ins Krankenhaus gebracht. Es war unklar, ob er überleben würde. Entsetzlich genug, wenn Leute – statt zu helfen! – einen Unfall oder Suizid filmen. Rettungskräfte aber an der Arbeit zu hindern, damit ein Mensch nicht gerettet wird, das überschreitet die Grenzen jeder Menschlichkeit.

Auch wenn es erfreuliche Gegentrends gibt, wird doch sehr deutlich, dass sich die Kultur des Zusammenlebens verändert, dass sich an vielen Stellen Respektlosigkeit, Ichbezogenheit und Rücksichtslosigkeit breit machen, Weil wir inzwischen in einer Gesellschaft leben, deren extreme wirtschaftsliberale Ausrichtung die Menschen untereinander zu scharfen Konkurrenten macht – nicht nur um Ausbildungsplätze, Arbeitsplätze oder Wohnungen, sondern auch im ganz alltäglichen Miteinander. Unser Leben vor allem in den Metropolen macht uns ruhelos, die vielen schnellen Veränderungen stressen und überfordern uns immer wieder, wenn wir sie nicht wollen oder das Gefühl haben, nicht Schritt halten zu können.

Zum Thema Rechtsentwicklung und AfD: Die Furcht um die eigene Zukunft und die Zukunft der Kinder und Enkelkinder ist inzwischen auch im linksliberalen Milieu stark ausgeprägt, sodass es vielen buchstäblich am liebsten wäre, wenn ein Weg gefunden würde, wie man sich die kaum noch gelittenen Asylsuchenden vom Hals halten kann. Auch die gutsituierte Mittelschicht, der es hierzulande – vor allem im internationalen Vergleich – sehr gut geht, fürchtet sich davor, sie könnte Nachteile erdulden müssen, sie müsste mit anderen teilen. Diese anderen, das sind derzeit die Flüchtlinge aus Afrika und Afghanistan. Doch das stimmt nicht. Die Konkurrenz um Jobs ist vorgeschoben. Noch haben wir tausende freie Stellen, beileibe nicht nur in den hoch akademischen Berufen. Es gibt Gastwirtschaften, die schließen müssen, weil sie keine Ober und Kellnerinnen mehr finden. Eine Treppe zwischen Küche und Schankraum, schlechte Erreichbarkeit, unangenehme Arbeitszeiten oder ähnliches reichen für die Absage. Das Internet gaukelt den Menschen vor, es gäbe alles sofort per Knopfdruck auf das Sofa. Dass aber draußen, im wirklichen Leben, Arbeit im Zweifelsfall auch anstrengend sein kann, das kommt bei Google, Facebook, Amazon, und den anderen Helden der Einfalt nicht vor.

Teilen aber werden wir eines Tages in der Tat müssen. Dann nämlich, wenn die reichen Nationen und die opulent lebenden Eliten überall endlich akzeptieren, dass dieser Planet nur genug für alle hat, wenn wir die Gier bekämpfen, wenn wir uns bescheiden. Wie schwer das wird, zeigt die armselige Asyldebatte in Europa.

Es gibt andere, gute Gründe für Ängste. Wohnungen sind verdammt teuer geworden, weil man mit Boden und Wohnraum spekulieren darf, weil der Staat bislang nur halbherzig eingreift, um den Anstieg der Mieten in Schach zu halten, weil es viel zu wenige Sozialwohnungen und vielerorts überhaupt zu wenige Wohnungen gibt. Aber auch, weil es inzwischen als ganz normal gilt, dass im Durchschnitt jede Deutsche knapp fünfzig Quadratmeter Wohnfläche hat. Noch im Jahr 2000 waren es rund zehn Quadratmeter weniger. Wohnten wir damals etwa zu beengt? Größere Wohnungen, nur weil man sich das leisten kann? Wenn auch ganz normal Verdienende keine für sie bezahlbare Wohnung mehr finden, dann liegt das also nicht an den Migranten. Und doch fühlen sich viele mit ihnen in Konkurrenz. Es erscheint eben viel einfacher, die alte „Das Boot ist voll“-Theorie zu bedienen.

Die andere Wirklichkeit wird durch die kleine Schicht mit hohen Gagen repräsentiert. Durch Fußballer mit Millionenkonten. Durch die Zuckerwatte-Welt der Manager. Durch eine Kaste, die uns mit ihrem Gerede über den ach so innovativen, unternehmerischen Risikomut nur irreführt, während sie sich selbst so absichert, dass die „Unternehmer“ sogar bei krassestem Versagen noch weich fallen. Gleichzeitig ertrinken Flüchtlinge im Mittelmeer, weil Schlepperbanden ihnen untaugliche Schiffe angedreht haben und weil Retter nicht retten dürfen! So verbreitet sich Hartherzigkeit und Inhumanität in Europa. Es wird Zeit, das alles offen auszusprechen, überall, wo man darauf trifft. Es wird Zeit, dagegen aufzustehen. Noch ist es nicht zu spät.

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