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Ein Kommunist analysiert den Kapitalismus: Karl Marx

Warum kommt es zu Finanzkrisen? Warum sind die Reichen reich und die Armen arm? Wie funktioniert Geld? Woher kommt das Wachstum? Schon Kinder stellen diese Fragen – aber die Ökonomen können sie nicht beantworten.  Ein Grund dafür ist, dass Klassiker wie Adam Smith, Karl Marx und John Maynard Keynes heute an den Universitäten kaum, falsch oder gar nicht mehr gelehrt werden. Dabei haben diese drei Theoretiker die besten Antworten gegeben. Wer die Gegenwart zu verstehen sucht, muss die Geschichte kennen. Für ihr Buch „Kein Kapitalismus ist auch keine Lösung“ hat sich Ulrike Herrmann auf Spurensuche begeben – unter anderem im Berlin des frühen 19. Jahrhunderts, wo ein junger Student aus Trier gerade begann, seinen geistigen Horizont rapide zu erweitern…

Armut und Unterernährung waren allgegenwärtig. Selbst wer Arbeit hatte, konnte davon kaum leben: Ein erwachsener männlicher Tagelöhner verdiente 1830 zwischen 102 und 107 Taler im Jahr – aber eine fünfköpfige Familie benötigte etwa 255 bis 265 Taler, um wenigstens das Existenzminimum abzudecken. Zudem hatten viele Berliner gar kein geregeltes Einkommen und litten bitterste Not, wie eine zeitgenössische Aufzählung zeigt. 1846 gab es in Berlin »10 000 prostituierende Frauenzimmer, 12 000 Verbrecher, 12 000 latitierende Personen, 18 000 Dienstmädchen, 20 000 Weber (die bei ihrer Arbeit sämtlich ihr Auskommen nicht finden), 6 000 Almosenempfänger, 6 000 arme Kinder, 3 bis 4 000 Bettler, 2 000 Bewohner der Zuchthäuser und Strafanstalten, 1 000 Bewohner des Arbeitshauses, 700 Bewohner der Stadtvogtei, 2 000 uneheliche Kinder, 2 000 Pflegekinder, 1 500 Waisenkinder«. Etwa ein Viertel der Berliner verdiente zu wenig zum Leben oder war gänzlich unversorgt.

Marx muss dieser grassierenden Armut täglich begegnet sein, doch als Student interessierte er sich noch nicht für soziale oder wirtschaftliche Fragen, sondern fraß sich geradezu enzyklopädisch durch juristische, philosophische und literarische Texte. Im November 1837 schrieb er einen Brief an seinen Vater, in dem er das erste Berliner Studienjahr zusammenfasste: Unter anderem hatte er Heineccius, Thibaut und Fichte rezipiert sowie die beiden ersten Pandektenbücher ins Deutsche gebracht. Auch Tacitus’ Germania und Ovids Tristium Libri hatte er übersetzt. Er hatte Lessings Laokoon, Solgers Erwin, Winckelmanns Kunstgeschichte und Ludens Geschichte des Teutschen Volkes exzerpiert. Er hatte alle literarischen Neuerscheinungen sowie Ernst Ferdinand Kleins Kriminalrecht und Annalen gelesen. Teile dieser Lektüre sollten in eine rechtsphilosophische Abhandlung fließen, doch diese »Arbeit von beinahe 300 Bogen« verwarf Marx wieder, weil er mit sich selbst unzufrieden war.

Der Brief ist noch in einem romantisch schwülstigen Ton gehalten, der an Marx’ Gedichte erinnert. Manche Sätze waren nur Wortgeklingel, das möglichst geistreich erscheinen sollte. So begann der Brief mit den Sätzen: »Teurer Vater! Es gibt Lebensmomente, die wie Grenzmarken vor eine abgelaufene Zeit sich stellen, aber zugleich auf eine neue Richtung mit Bestimmtheit hinweisen. In solch einem Übergangsmomente fühlen wir uns gedrungen, mit dem Adlerauge des Gedankens das Vergangene und Gegenwärtige zu betrachten, um so zum Bewußtsein unserer wirklichen Stellung zu gelangen. Ja, die Weltgeschichte selbst liebt solches Rückschaun und besieht sich, was ihr dann oft den Schein des Rückgehns und Stillstands aufdrückt, während sie doch nur in den Lehnstuhl sich wirft, sich zu begreifen, ihre eigene, des Geistes Tat geistig zu durchdringen.«

Nur zehn Jahre später würde Marx das Kommunistische Manifest schreiben, das in die Weltliteratur eingegangen ist, weil es ohne jede Floskel auskommt, sondern eine knappe und konkrete Wucht entfaltet. Von diesem Marx ist der junge Student noch weit entfernt, und dennoch sind einige Charakterzüge schon zu erkennen: Er las alles, einfach alles. Kein Text war zu schwierig, keiner zu abseitig. Marx war grenzenlos neugierig, und nichts wurde nur abgeschrieben, sondern alles durchdacht. Allerdings zeigte sich schon damals, dass es ihm schwerfiel, Arbeiten abzuschließen, weil er sich ständig in neue Lektüren stürzte – und immer gleich in ganz großen Dimensionen dachte. Bereits der junge Student wollte »ein neues metaphysisches Grundsystem« entwerfen, wurde dann aber »meiner ganzen früheren Bestrebungen Verkehrtheit einzusehn gezwungen «, wie er dem Vater schrieb.

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