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Die Klugheit der Pflanzen

Der Literatur-Nobelpreisträger Maurice Maeterlinck schrieb in seinem Buch „Die Intelligenz der Blumen“ bereits vor über hundert Jahren: „Blumen haben anscheinend unsere Geduld, unsere Beharrlichkeit, unsere Eigenliebe, den gleichen abgestuften mannigfachen Verstand, ja fast dieselbe Hoffnung und dasselbe Ideal.“ Seitdem das vielfältige Signal- und Kommunikationssystem der Pflanzen entdeckt wurde und das „geheime Leben der Bäume“ in aller Munde ist, scheint Maeterlincks Äußerung weit mehr zu sein als eine romantisch-schwärmerische Metapher. Er selbst schreibt dazu lediglich: „Ich will weiter nichts, als die Aufmerksamkeit auf einige interessante Vorgänge richten, die rings um uns stattfinden in einer Welt, in der wir uns ein wenig zu eitel für privilegierte Wesen halten.“ Ein Auszug, der vielleicht die eine oder den anderen dazu bewegt, zum bevorstehenden Muttertag den Blumenstrauß gegen Maeterlincks Buch einzutauschen …

Die Schmarotzerpflanzen bieten uns ähnlich seltsame und bösartige Schauspiele, so zum Beispiel die erstaunliche Flachsseide (Cuscuta epilinum), im Volksmund Mönchsbart genannt. Sie ist blätterlos und kaum ist ihr Stängel ein paar Zentimeter lang, so verlässt sie mit Vorbedacht ihre Wurzeln, um ihr erwähltes Opfer zu umspinnen und ihre Saugwurzeln hineinzusenken. Fortan lebt sie fast ausschließlich auf Kosten ihrer Beute. Es ist unmöglich, ihren Scharfsinn zu täuschen, sie weist jede ihr nicht zusagende Stütze ab und sucht, unter Umständen ziemlich weit, nach dem Hanf-, Hopfen-, Lein­ oder Luzernenstängel, der ihrem Temperament und Geschmack zusagt.

Die Flachsseide lenkt unsern Blick unwillkürlich auf die Kletterpflanzen, die sehr merkwürdige Gewohnheiten haben und ein Wort der Beachtung verdienen. Überdies haben die unter uns, die ein wenig auf dem Lande gelebt haben, gewiss oft Gelegenheit gehabt, zu beobachten, mit welchem Instinkt oder welcher Art von Vision die Ranken des wilden Weins oder der Winde nach einem Harkenstiel streben, den man an eine Mauer gelehnt hat. Man stelle die Harke woandershin – und am nächsten Tage hat sich die Ranke umgedreht und sie wiedergefunden. Schopenhauer fasst in seiner Betrachtung »Über den Willen in der Natur« bei dem Kapitel, das der Pflanzenphysiologie gewidmet ist, eine Menge von Beobachtungen und Experimenten über diesen wie über mehrere andre Punkte zusammen. Es würde mich zu weit führen, darauf einzugehen; ich bitte den Leser, das Kapitel nachzulesen: Er findet dort zahlreiche Quellen und Nachweise angeführt. Ich brauche nicht hinzuzufügen, dass diese Quellen sich seit fünfzig Jahren seltsam vermehrt haben und dass der Stoff nahezu unerschöpflich ist.

Unter diesen zahllosen Beispielen der List und der mannigfachen Vorsichtsmaßregeln möchte ich noch das des Schweinssalats (Hyoseris radiata) anführen, einer kleinen, gelb blühenden Pflanze, die dem Löwenzahn ähnlich ist. Man findet sie häufig an alten Mauern an der Riviera. Um sowohl die Samenausstreuung wie die Stabilität ihrer Rasse zu sichern, trägt sie gleichzeitig zwei Samenarten: die einen fallen leicht ab und haben Flügel, um im Winde zu fliegen, während die anderen flügellos sind und Gefangene des Blütenstands bleiben, sodass sie erst frei werden, wenn die Pflanze verfault.

Bei der Choleradistel (Xanthium spinosum) sehen wir, wie fein durchdacht gewisse Systeme der Samenausstreuung sind und wie glücklich sie funktionieren. Die Choleradistel ist ein scheußliches Unkraut, mit furchtbaren Stacheln gespickt; sie war bis vor Kurzem in Westeuropa unbekannt und natürlich hatte niemand daran gedacht, sie hier einzuführen. Sie verdankt ihre Verbreitung ihren mit Häkchen besetzten Fruchtkapseln, die sich in die Tierfelle festkrallen. In Russland heimisch, ist sie zu uns in Wolleballen gekommen, die aus den russischen Steppen stammten. Man kann die Etappen ihrer Wanderschaft und Welteroberung auf der Karte verfolgen.

Das italienische Leimkraut (Silene italica), ein harmloses weißes Blümchen, das man massenhaft unter den Ölbäumen findet, hat sein Denken in einer anderen Richtung betätigt. Anscheinend sehr ängstlich, sehr besorgt, dass keine unliebsamen und unsauberen Insekten seinen Kelch besuchen, hat es seine Stängel mit drüsigen Haaren besetzt, die einen klebrigen Leim ausschwitzen. Durch diese werden die Schmarotzer so gut gefangen, dass die Bauern sie im Süden als Fliegenfalle in ihren Häusern benutzen. Gewisse Leimkrautgewächse haben das System übrigens sinnreich vereinfacht. Da sie vor allem die Ameisen fürchten, so haben sie es zu deren Abwehr für ausreichend gefunden, einen breiten klebrigen Ring unter dem Knoten jedes Stängels anzubringen. Genau dasselbe machen die Gärtner, Wenn Sie die Stämme der Obstbäume mit einem Teerring umgeben, um zu verhindern, dass Raupen hinaufkriechen. …

Wenn die Natur allwissend wäre, wenn sie sich nie irrte, wenn sie überall und in allen ihren Unternehmungen von Anfang an vollkommen, unfehlbar und sicher wäre, wenn sie in allen Dingen eine unermesslich höhere Vernunft entfaltete, als die unsre ist, so müssten wir sie fürchten und den Mut verlieren. Wir müssten uns für das Opfer und die Beute einer fremden Macht halten, die wir nie hoffen dürften zu erkennen und zu ermessen. Es ist bei Weitem vorzuziehen, wenn man sich überzeugen kann, dass diese Kraft – wenigstens in intellektueller Hinsicht – der unseren eng verwandt ist. Unser Geist schöpft aus den gleichen Quellen wie der ihre. Wir gehören derselben Welt an und sind fast gleich und gleich. Wir verkehren nicht mehr mit unerreichbaren Göttern, sondern mit einem zwar verhüllten, aber brüderlichen Willen, den es zu belauschen und zu leiten gilt.

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